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Die Puppenspieler

Die Puppenspieler

Titel: Die Puppenspieler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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fragte sie mürrisch. »Ist er in die schwarze Welt hinabgestiegen?«
    Richard erzählte es ihr, während sie langsam, aber widerspruchslos die Suppe schlürfte, und als er am Ende angelangt war, sagte Saviya bemüht feindselig: »Ich hasse dich immer noch, aber erzähl mir noch mehr!«
    Er erzählte ihr aus der Ilias, damit sie auch die Vorgeschichte von Äneas kennenlernte, und als er beim letzten Kampf zwischen Achilles und Hektor angelangt war, stellte er fest, daß sie eingeschlafen war. Er legte seine Hand auf ihre Stirn. Das Fieber schien etwas nachgelassen zu haben. Inzwischen war es zu dunkel, um Holz zu suchen, und er blieb, wo er war, beobachtete das Zigeunermädchen und flüsterte wie in jeder Nacht: »Du wirst leben, Saviya.«
    Saviya zog sich nur sehr langsam aus der dunklen Welt ihrer Krankheit heraus; doch Richard war fest davon überzeugt, daß sie sich auf dem Weg der Genesung befand. Als er, froh, eine Axt gefunden zu haben, einmal mit einigen abgeschlagenen Ästen zurückkehrte, lachte sie. »Ah, die Stadtleute – jeder Zigeuner könnte es besser.«
    »Dann beeile dich mit dem Gesundwerden«, entgegnete Richard mit einer Grimasse, »damit du mir zeigen kannst, wie man es macht. Woher willst du eigentlich wissen, daß ich aus der Stadt komme?«
    »Ganz einfach. Überall anderswo wärest du längst gestorben.« Sie machte ein ernstes Gesicht. »Ich habe beschlossen«, sagte sie feierlich, »zu leben.«
    Richard befreite die Äste von ihren Zweigen und antwortete, während er ihr den Rücken zuwandte: »Weißt du – das habe ich mir fast gedacht, Kleine.«
    Wider Erwarten wurde sie nicht ärgerlich. Sie beobachtete ihn mit zusammengezogenen Brauen. »Aber du hast keine Ahnung, warum ich leben will.«
    »Wenn es nicht ist, um mir beim Holzhacken zu helfen …« begann Richard, dann kam er zu ihr und sah in ihren Augen einen Ausdruck, der ihm vollkommen neu war.
    »Ich will leben«, sagte sie heftig, »um mich zu rächen. Immer, immer bin ich mit dem Stamm von einem Ort zum anderen gezogen, und überall konnten sie uns bespucken, Steine nach uns werfen und uns vertreiben. Ich will nicht mehr, verstehst du? Ich will einmal mächtig sein, so mächtig, daß kein Mensch mich mehr vertreiben kann, und Kleider will ich haben, so viele, daß ich nie wieder frieren muß, und niemand soll es wagen, zu meinen Kindern zu sagen: ›Du Zigeunerbalg‹. Ich will wissen, was sich in den Büchern versteckt, von denen du mir erzählt hast, ich möchte wissen, welcher Zauber es ist, der den anderen solche Macht über uns gibt! Du glaubst mir wohl nicht?«
    »Doch«, sagte Richard langsam, »ich glaube dir. Sag mir nur wie alt bist du eigentlich, Saviya?« Sie zog die Decke, die er über ihr ausgebreitet hatte, über den Kopf und murmelte: »Tausendundeins.«
    Er wurde nicht klug aus ihr.
    Richard wußte, daß sie manchmal heimlich in der Nacht weinte, daß sie, wenn sie glaubte, er würde es nicht hören, heftig schluchzte. Er nahm die Stimmungen dieses kleinen Mädchens hin, die einen Heiligen aus der Fassung gebracht hätten. Saviya war so launisch wie das Schicksal.
    »Riccardo, du bist häßlich und dumm und ein Esel«, sagte sie einmal in ihrem sonderbaren Italienisch, als er darauf bestand, daß sie etwas aß, »geh weg und laß mich allein.«
    Sie war auch imstande und warf ihm das Essen ins Gesicht. Richard spürte mehr als einmal den dringenden Wunsch, sie zu ohrfeigen. Dann ging er hinaus und suchte sich ein paar Äste, um sie mit der Axt zu bearbeiten.
    In der Nacht fuhr sie manchmal schreiend aus Träumen hoch, und wenn sie sich wieder zurechtgefunden hatte, flüsterte sie: »Riccardo … Riccardo, bist du da? Riccardo, bitte, halte meine Hand fest.« Er tat es und spürte überrascht, daß sie ihre andere Hand auf seine Wange legte. »Es tut mir leid, daß ich so gemein zu dir war, Riccardo. Ich werde das nächste Mal auch bestimmt alles aufessen.«
    Am Morgen sang sie Richard, um ihm eine Freude zu machen, ein Lied vor. Es klang sehr fremd und andersartig, doch sie hatte eine volle, schöne Stimme, die ihn überraschte. Und am nächsten Tag hatte sie wieder einen Wutanfall.
    Diesmal erwies sich Richards grimmige Suche nach Holz als verhängnisvoll. Er war etwas weiter bergauf unbekannten Tieren begegnet. Anstatt des sich verästelnden Geweihs, wie er es von Rehen und Hirschen kannte, hatten diese Tiere, die mehr wie Ziegen aussahen, lange, nach hinten gebogene, spitz zulaufende Hörner. Ihre

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