Die Quelle
Hügels dort unten, dachte der Statthalter, ist die Geschichte der Menschen, die es gelernt haben, in einer Stadt beieinander zu leben, treu den Göttern städtischen Lebens - die einzige Geschichte in der Welt, die wichtig ist.
Zadok der Hebräer blickte ebenfalls auf die Stadt hinab. Aber er wog sie mit anderem Gewicht. Als freier Mann der Wüste konnte er in diesem Makor nichts anderes sehen als eine Brutstätte des Unreinen. Gewiß, auch in der Wüste kam es vor, daß ein lüsterner Mann einem heiratsfähigen Weib Gewalt antat - so etwas war verständlich. Aber ein strenges Gesetz forderte, daß das Paar heiratete und so dem, was geschehen war, Würde verlieh. Geheiligte Dirnen - so etwas war in der Wüste unmöglich. Die Sauberkeit der Steine allein würde derlei nicht dulden: Unzucht konnte nur in den Städten entstanden sein. In der Weite der Wüste mochte eine Frau wie Jael zwar ihrem Mann untreu werden. Aber dafür gab es lediglich eine Lösung, eine schnelle, endgültige: den Tod. Nur in der Stadt konnte eine solche Frau auch noch als Heldin anerkannt, nur in der Stadt ihr Zuflucht gewährt werden. Die Stadt war voller Männer, die nie unter der Unendlichkeit des Wüstenhimmels gearbeitet, nie Schafe geschoren und nie die Wirklichkeit ihres Gottes selbst erfahren hatten. Diese Männer saßen gekrümmt über einer runden Scheibe und machten Tongeschirr, sie schrieben auf Ton, den sie nicht gegraben, und sie verkauften Wein, den sie nicht gekeltert hatten. Ihre Werte waren falsch und ihre Götter armselig. Während Zadok auf die ihn so beängstigende Stadt blickte, erinnerte er sich der lehrreichen Geschichte zweier Angehöriger seiner Sippe in alter Zeit. Er meinte seinen Vater Zebul zu hören, der sie ihm erzählt hatte: »Dein Vorfahr Kain war ein Mann der Stadt, und als er seine Gabe El-Schaddai darbrachte, verachtete Gott sie.
Aber dein Vorfahr Abel lebte außerhalb der Mauern wie wir, und als er seine Gabe darbrachte, war sie El-Schaddai wohlgefällig, denn unser Gott hat immer die ehrlichen Menschen, die draußen leben, den listigen vorgezogen, die in den Städten leben. Die Zurückweisung erzürnte Kain, und er erschlug Abel. Seit jener Zeit herrscht Feindschaft zwischen Stadt und Wüste.« Noch immer war in Zadok die Ungewißheit gegenwärtig, die ihn sechs Jahre in der Wüste hatte bleiben lassen, trotz der Weisung El-Schaddais, in die Stadt zu ziehen; noch immer fragte er sich, ob Menschen an einem Ort des Unreinen wie Makor zu leben und gleichwohl ihren Gott so zu kennen vermöchten, wie seine Hebräer ihn in der Wüste gekannt hatten. Doch als er voller Sorge überlegte, was wohl die Zukunft brächte, entsann er sich der beruhigenden Worte El-Schaddais: »Innerhalb der Mauern wird es nicht leicht für Mich sein, zu euch zu sprechen, aber Ich werde dort sein.« Und er sah auf den neben ihm stehenden Städter und dachte: Falls wir überhaupt mit einem Kanaaniter Gemeinsames erreichen können, dann mit dem Statthalter Uriel, denn er ist ein redlicher Mann. So stiegen beide hinab, im Einvernehmen und in ehrlicher Absicht, der eine zu seiner Stadt, der andere zu seinem offenen Ackerland, jeder bereit, sein Bestes zu geben für den Frieden zwischen ihren Völkern. Doch schon der Abend brachte die erste Prüfung: Jaels Mann war in der Stadt geblieben, als man die Tore geschlossen hatte, und als es dunkel geworden war, hatte er sich zu dem Haus geschlichen, in dem seine Frau jetzt wohnte, und sie ermordet. Aber bevor er noch über die Mauer hatte entfliehen können, war er von einem Wächter ertappt und getötet worden.
Fast Mitternacht war es, als der Statthalter und Zadok zusammentrafen, um den Fall zu beraten. Sie konnten ihre Leute unschwer beruhigen, denn Tod stand gegen Tod: Eine Ehebrecherin hatte man erschlagen, und damit war den
Hebräern Genugtuung gegeben worden; und ein Posten hatte einen Eindringling getötet, und so war den Kanaanitern Genüge getan worden. Es war ein weises Urteil - die Bevölkerung erkannte es an. Ein Vorfall, der leicht zum zündenden Funken für ein verheerendes Feuer hätte werden können, war abgetan. Zadok und Uriel durften hoffen, daß dies ein gutes Vorzeichen für die Zukunft sei. Aber es kam anders. Uriel und Zadok, die beiden Männer guten Willens, gerieten unter den Druck ihrer Umgebung, und dieser Druck sollte nicht mehr weichen. Als der Statthalter von der Unterhandlung heimkehrte, fragte ihn Rahab, sein Weib, warum er den Hebräern gestatte, die Stadt zu
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