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Die Quelle

Titel: Die Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A Michener
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wie es sie an seine Seite zog und ihre sanfte Stimme Worte und Gedanken zu flüstern begann, die nicht von ihr selbst stammen konnten: »Sieh nicht auf die Mauern, Rimmon, Sohn der Gomer. Sieh nach Westen auf jene Hänge am Felde der Walker. Hat nicht vor hundert Jahren Sanherib, als er Makor niedergezwungen hatte, dort sein Feldlager aufgeschlagen mit seinem Heer, so zahlreich wie Heuschrecken im siebenten Jahr? Und machte er sich nicht bereit, Jerusalem zu zerstören«
    - Gomer wußte von alledem nichts, und doch sagte ihre Stimme es -, »so daß Davids heilige Stadt hilflos vor ihm lag? Der schreckliche Assyrer brauchte ich nur gegen die Mauern zu stemmen, und Jerusalem war sein, auf daß er den Tempel zerstören und die Kinder Juda für immer zerschmettern könne. Aber um Mitternacht ging Ich zwischen den Zelten der Assyrer einher, mächtiger war Ich in jener Nacht als die Wagen, tödlicher als die eisenspitzigen Pfeile, und am Morgen überkam Tod die Scharen, und sie schmolzen dahin.«
    Rimmon staunte darüber, wie seltsam die Mutter das Wort »Ich« gebrauchte, und es wurde ihm klar, daß etwas anderes aus seiner Mutter gesprochen hatte als sie selbst. Gomer hingegen, wieder ins klare Bewußtsein zurückkehrend, erlebte zum erstenmal das große Geheimnis, daß Worte aus ihrem Munde gekommen waren, die nicht die ihren sein konnten. Und beide erkannten, daß ein Gewaltiges geschehen war. Und doch wagten Mutter und Sohn nicht zu forschen, was sich ereignet hatte. Rimmon mochte nicht glauben, daß Jahwe zu ihm gesprochen hatte, denn einer solchen Erhöhung würdig fühlte er sich nicht. Gomer jedoch wußte, daß sie eine unwissende Frau war, des Lesens und Schreibens unkundig, und so arm dazu, daß sie all ihren Besitz in einer Tasche mit sich führen konnte. Kein Mann hatte sie je geliebt, und ihr Sohn hatte einen Vater, dessen Namen auf keiner Rolle verzeichnet war. Zu solchen Menschen sprach Jahwe nicht. Er wählte nicht Leute vom nördlichen Tor, um in ihnen Sich zu offenbaren. Und jeder Gedanke an Prophetentum lag Gomer und ihrem Sohn fern.
    In dem Versuch, sachlich zu sein, fragte Rimmon: »Hat Sanherib nicht Jerusalem zerstört? Wie Makor?«
    »Ich glaube nicht«, sagte seine Mutter, nun wieder mit ihrer eigenen Stimme. Sie erinnerte sich undeutlich einer alten Mär, wie die Stadt gerettet worden war. »Die Heerscharen waren schon bereit zuzuschlagen, aber sie sind verschwunden.« Und dann betraten sie als zwei schlichte Pilger die Heilige Stadt.
    Hier erlebten sie ein Schauspiel, wie sie es in der Welt ihrer Zeit nirgend anderswo hätten sehen können, nicht im jungen Griechenland der Olympischen Spiele und der Mysterien und nicht im alten Ägypten, wo man am Nil prunkvolle Feste beging. Gewiß: Großartiges geschah in Babylon, und in Persien wuchs eine neue Macht heran. Aber nur in Jerusalem konnte man ein ganzes Volk sich in so feierlich ernster, leidenschaftlicher Hingabe versammeln sehen um einen herrlichen Tempel als Mittelpunkt - den Tempel, der Jahrhunderte zuvor von Salomo erbaut worden war. Hierher, wo aller Glauben der Hebräer gipfelte, hatte Gomer ihren Sohn gebracht, zu einem Zweck, von dem sie selbst nichts wußte. Und nun waren sie da. Vor dem Tempel beugten sie die Knie.
    Dann führte Rimmon seine Mutter aus der Stadt heraus auf eine Anhöhe mit Ölbäumen, zu deren Füßen der Bach Kidron floß, vorbei an Gärten und Granatapfelbäumen und Beeten mit vielerlei Gemüse. Von den Bäumen schnitt der junge Bauer Zweige und vier Äste als Eckpfähle und baute daraus mit seinen Schnüren eine Hütte, in der er und Gomer nun acht Nächte schlafen wollten. Soweit man sehen konnte, standen solche Hütten auf der Anhöhe, und bei jeder waren die Zweige so verflochten, daß, wer tief in der Nacht aus dem Schlaf erwachte, die Sterne sehen konnte. Auf solche Weise gedachten die Hebräer der Jahrzehnte ihrer Einsamkeit in der Wüste, als sie in ihren zerfetzten Zelten Jahwe erkannten: Alljährlich gingen die Kinder Israel und Juda in ihre Laubhütten, wie Gomer und Rimmon es heute taten.
    Am Morgen standen Mutter und Sohn frühzeitig auf und kehrten in die Stadt zurück, wo sie am Tempel ihre Anbetung darbrachten. Gomer stand inmitten der anderen Frauen draußen, während ihr Sohn hineinging, um das Allerheiligste zu sehen, zu dem nur wenige Priester Zutritt hatten. Danach ging er mit seiner Mutter zu den Tieropfern, bei denen die schönsten Bullen an den Altar geführt wurden. Und hier, auf dem

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