Die Quelle
Höhepunkt der feierlichen Kulthandlung, während Wolken von Weihrauch aufstiegen, erfaßte Rimmon, was des Menschen nie endende Unterwerfung unter den Willen des Einen Gottes Jahwe bedeutete. Als die Flammen der Opferfeuer gen Himmel schlugen, brannte sich mit ihnen der Sinn dieses Glaubens in sein Bewußtsein ein. Dieser Stadt würde er sich für immer erinnern, und am sechsten Tag hörte Gomer ihn flüstern: »Wenn ich dich vergesse, Jerusalem, so sollen meine Augen erblinden und meine rechte Hand ihre Kraft verlieren.«
Aber nicht nur um solcher feierlicher Augenblicke willen unternahmen die Pilger die lange Wallfahrt nach Jerusalem. Wenn nämlich die Tage der Andacht beendet waren, die Ähren gelesen und die Trauben gepreßt, dann fanden fröhliche Feiern statt, und alte Bräuche lebten wieder auf, so alt wie das Land Kanaan selbst. Nichts aber war so hinreißend wie die Nacht, in der die unverheirateten Mädchen sich in weiße, neu genähte Gewänder kleideten, um in die Weinberge am Weg nach Bethlehem zu ziehen, wo man Trauben eigens für dieses Fest zurückbehalten hatte. Dort wurde eine der Jungfrauen dazu bestimmt, in die Traubenpresse zu steigen und, ihr neues Kleid um die Knie geschlagen, auf den letzten Trauben zu tanzen, während ihre Schwestern das Lied der Sehnsucht sangen:
»Junge Männer, ihr jungen Männer von Jerusalem!
Erhebt die Augen und seht,
Seht wen, seht welche Ihr heiraten sollt.
Seht nicht auf Schönheit,
Und seht nicht aufs Lächeln,
Doch seht auf ein Mädchen aus guter Sippe,
Aus einer Sippe, die Jahwe verehrt!«
Mit Staunen sah Rimmon, wie die Mädchen um die Kelter tanzten, frisch die Gesichter und lachend die Augen - sah, wie sie im Schein der Fackeln vorbeihuschten und sangen, er solle eine unter ihnen wählen, solle suchen, welche er heiraten möchte.
Nach einer Weile aber wurde das Mädchen in der Kelter, dem die zerstampften Trauben bis an die Knöchel reichten, müde und verlangte nach Ablösung. Und der Zufall wollte es, daß die Mädchen aus Jerusalem als Nachfolgerin eine schöne Fremde aus dem Norden herbeiholten: Mikal, die Tochter des Statthalters von Makor. Junge Männer hoben sie mit einem Schwung in die Kelter. Als sie ihr neues Kleid zusammenraffte, um es vor Flecken zu bewahren, hatte Rimmon das seltsame Gefühl, Mikals Kleid sei irgendwie sein Kleid - war es doch in seiner Küche genäht, und hatte er es doch schon gekannt, bevor Mikal selbst es gesehen hatte -, und dieses Kleid tanze von selbst, ein wirbelndes, wunderschönes weißes Kleid. Unwillkürlich faßte er nach der Hand der Mutter, als wolle er sie beglückwünschen, daß sie solch ein Gewand genäht hatte.
Dann aber war ihm, als müsse sein Herz vor Liebe bersten -von einer Liebe, die nie enden konnte. Denn es war ja nicht das Kleid, das tanzte, sondern ein Mädchen, das den Kopf lachend den Singenden zuneigte; ein Mädchen, das vergeblich versuchte, die Flecken des Traubensaftes von seinem neuen Kleide fernzuhalten; ein Mädchen, das endlich, als es sah, daß dies zwecklos war, das Kleid fallen ließ und die Hände in die Luft warf, während das Singen immer lebhafter wurde; ein Mädchen, dem nun der Purpursaft der Reben bis ins Gesicht spritzte, daß er vom Kinn tropfte, wo eine rote Zunge ihn zu schmecken suchte. Der Tanz dieses Mädchens - er war wie eine Erinnerung aus uralter Zeit, er beschwor die Geschichte der Hebräer herauf aus Tagen, da sie weder Jahwe kannten noch die Pharaonen. Rimmon stand wie verzaubert. Als aber der Gesang endete und ein anderes Mädchen an die Reihe kam, um im kultischen Tanz die Trauben zu stampfen, war er es, der Mikal aus der Kelter hob. Einen Augenblick lang schwebte sie über ihm in der Luft und blickte auf ihn hernieder.
»Rimmon?« rief sie jubelnd. Und als er sie sacht auf den Boden gesetzt hatte, ließ sie ihn den Traubensaft abwischen. Zart berührte seine rauhe Hand ihr Gesicht, und sie wich nicht zurück, sondern streckte ihr verschmiertes Kinn dem seinen entgegen. Da küßte er sie.
Auf dem Heimweg von Jerusalem nach Makor teilte Rimmon seiner Mutter mit, daß er Mikal heiraten werde. Gomer widersprach, denn ein Hebräer solle, so sagte sie, kein Mädchen heiraten, dessen Eltern und Verwandte mehr Kanaaniter seien als Hebräer. Doch Rimmon wollte diesen Einwand nicht gelten lassen, und Gomer mußte entdecken, daß hinter seinen Worten die gleiche Festigkeit stand, zu der sie sich selbst in den vergangenen Jahrzehnten hatte durchringen müssen.
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