Die Quelle
zu hindern. Aber Gomer mit der sanften Stimme wies ihre Einwendungen zurück, indem sie sagte: »Ich bin eine alte Frau. Ich muß Jerusalem sehen, bevor ich sterbe.« Unbeirrt führte sie ihren Sohn an den schimpfenden Männern von Bethel vorbei und hinaus aus der Stadt und weiter zum Dorf Anathoth, wo Propheten lebten. Von hier aus begannen Gomer und ihr Sohn den steilen Aufstieg nach Jerusalem.
In den ersten Stunden kletterten sie, noch ohne die herrliche Stadt sehen zu können. Da aber nun Hunderte von anderen Pilgern, herbeigeströmt von fern und nah, mit ihnen zogen, um in Jerusalem die hohen Tage zu Beginn des neuen Jahres zu feiern, waren sie sicher, auf dem rechten Weg zu sein.
Da waren junge Priester aus Dan und Dattelpalmenbauern von den Küsten Galilaeas, die in die Heilige Stadt pilgerten, um für eine gute Ernte zu beten. Da waren hebräische Färber aus der Hafenstadt Akcho, wo sie inmitten von phönizischen, aramäischen und zypriotischen Kaufleuten wohnten. Da waren Hebräer von Samaria, die dort, dem Gemetzel und der Versklavung entronnen, unter Fremden treu an ihrem alten Glauben festhielten, und arme Kleinbauern aus Sunem, dem Dorf, in dem der greise König David seine letzte Geliebte gefunden hatte, Abi sag, das »süße Kind«. Wer von den Wallfahrern es sich leisten konnte, führte ein Rind oder ein Schaf mit sich zum Opfer an den Altären des Tempels; andere hatten Hühner als Wegzehrung mitgenommen, und ein paar
Frauen trugen in Käfigen, aus Rohr geflochten, weiße Tauben für den Tempel. Einige wenige Bauern ritten auf Eseln, die meisten hingegen pilgerten zu Fuß, um im großen Salomonischen Tempel, nun dem einzigen Heiligtum der Hebräer, ihre Gebete zu verrichten und mit eigenen Augen den unvergänglichen Glanz der Davidsstadt Jerusalem zu sehen.
Während Gomer und Rimmon den letzten steilen, steinigen Pfad zwischen kahlen Hügeln und tiefen, ausgetrockneten Flußbetten erklommen, hörten sie vor sich Gesang, das freudige, altüberlieferte Lied des Aufstiegs:
»Ich freute mich über die, so mir sagten:
Lasset uns ins Haus des HErrn gehen!
Unsre Füße stehen in deinen Toren, Jerusalem.
Jerusalem ist gebaut, daß es eine Stadt sei,
Da man zusammenkommen soll,
Da die Stämme hinaufgehen, die Stämme des HErrn.«
Alle fielen beglückt in den Gesang ein. Jetzt aber erhob sich hier und da klagend und gequält eine Stimme, ungläubig, an der Schwelle Jerusalems zu sein, in demütigem Bitten:
»Aus der Tiefe rufe ich, HErr, zu Dir.
HErr, höre meine Stimme,
Laß Deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens.«
Und dann, in höchstem Bemühen, alles eigene Wünschen zu unterdrücken und sich ganz dem Willen Jahwes unterzuordnen, voller Vertrauen, wie Gomer vertraute, daß Seine Führung sie leiten und stützen werde:
»HErr, mein Herz ist nicht hoffärtig,
und meine Augen sind nicht stolz,
Ich wandle nicht in großen Dingen,
Die mir zu hoch sind.«
Und als sie die letzte Meile Weges antraten, gelobten sie feierlich, ohne Unterbrechung weiterzuwandern, ganz gleich, welche Hindernisse ihnen begegnen würden:
»Gedenke, HErr, an David und an all sein Leiden,
Der dem HErrn schwor
Und gelobte dem Mächtigen Jakobs:
>Ich will nicht in die Hütte meines Hauses gehen,
Noch mich aufs Lager meines Bettes legen,
Ich will meine Augen nicht schlafen lassen,
Noch meine Augenlider schlummern,
Bis ich eine Stätte finde für den HErrn,
Zur Wohnung dem Mächtigen Jakobsc.«
Heiß brannte die Sonne auf Gomer und Rimmon hernieder. Die Singenden vor ihnen verstummten plötzlich, und überall war Schweigen, während die hinter ihnen vorwärtsdrängten. Und da blickte die Menge nach Süden über die kahlen Hügel und sah, wie vor ihnen eine breite und hohe Mauer aufstieg, aufgeführt aus mächtigen Steinen, die rosenrot und grau und purpurfarben in der mittäglichen Sonne leuchteten; und von den Mauern erhoben sich Türme, die ein Tor schirmten, und dahinter ragten majestätisch die Umrisse des Tempels, schwer und gewaltig. Viele knieten nieder, dankbar, daß es ihnen vergönnt war, diese Stadt zu sehen. Gomer aber bemerkte, daß Rimmon beiseite stand und auf die ungeheuren Mauern und die unsagbare Schönheit blickte, welche die Steine dieses heiligen Ortes umschlossen. Und während sie ihren Sohn beobachtete, wie er dieses Wunder Jerusalem in sich aufnahm, versuchte sie zu erraten, welch göttlicher Plan ihn hierher gebracht habe. Aber sie wußte keine Antwort. Und dann spürte sie,
Weitere Kostenlose Bücher