Die Quelle
Bevor er starb, sah er mich mit seinem einen Auge an. Er hat mir mitten ins Herz geblickt. Ich bin entschlossen.«
Jehubabel dachte: Wie viele noch hat der Alte heute angesehen? Zu Paltiel aber sagte er: »Bist du dem Bund treu?«
»Du nicht?« fragte der kleine Bauer. »Der Alte hat auch dich angeblickt.«
»Hast du das gesehen?«
»Jehubabel, er hat uns alle angeblickt.«
Am liebsten hätte der Färber zu Paltiel gesagt, er solle gehen. Aber man konnte ihn nicht einfach fortschicken. Deshalb forderte Jehubabel ihn auf zu warten und ging stumm in sein Haus, wo seine Frau mit dem Abendessen wartete. Er sah sie nicht an, sondern begab sich in ein Hinterzimmer, wo er aus einer Truhe ein kleines Tuch nahm, in dem er ein scharfgeschliffenes Messer verwahrte. Dieses Messer legte er auf den Boden, setzte sich davor und starrte darauf nieder, während er überlegte, was zu tun sei. Nach einer Weile kam seine Frau, ihn zum Essen zu rufen. Als sie das Messer sah, dachte sie nicht mehr ans Essen. Ebenfalls stumm setzte sie sich neben ihn.
»Du denkst da über etwas Furchtbares nach«, sagte sie.
Schweigen. Immer noch starrten beide auf das Messer. Verzweifelt suchten sie einen Ausweg aus dieser Zwangslage, in die sie ungewollt geraten waren. Endlich sagte Jehubabel -und wieder war es ein Spruch Salomos: »>Die Gedanken der Gerechten sind redlich; aber die Anschläge der Gottlosen sind Trügerei.<« Seine Frau nickte zu dieser unbestreitbaren Erklärung, und er fügte ermutigt hinzu: »>Ein tugendsam Weib ist eine Krone ihres Mannes; aber eine böse ist wie Eiter in seinem Gebein.<« Sie lächelte matt, als wolle sie ihm für sein
Vertrauen danken, hielt sich aber davon zurück, ihm etwas zu sagen, was ihn beeinflussen könnte. Und so setzte er hinzu: »»Unschuld wird die Frommen leiten; aber die Bosheit wird die Verächter verstören.<«
Unter dem Eindruck dieser tröstlichen Sprüche waren Jehubabel und seine Frau fast schon so weit, der Versuchung nachzugeben und das Messer wegzupacken. Aber da sah Jehubabel wieder das mahnende Auge des so schändlich Hingerichteten. Abwehrend rief er: »Ein Mann, der bereits tot ist, darf uns nicht vorschreiben, was wir tun sollen.« Doch in diesem Augenblick klopfte es an der Tür, und mit drängender Stimme rief Paltiel: »Jehubabel, wir warten!« Verzweifelt blickte der Sprecher der Juden von Makor seine Frau an, dann warf er sich der Länge nach auf den Boden und schrie: »Adonai, Adonai, was soll ich tun?«
Von JHWH kam keine Antwort. Hilflos gestand Jehubabel seiner Frau: »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Tarphon nimmt an, daß ich mich mitschuldig mache. Ich habt doch gesehen, wie er lächelte. Wenn seine Krieger mich dabei ertappen, werde ich zu Tode gegeißelt.« Er schauderte, denn er glaubte zu spüren, wie die Riemen mit den Bleikugeln seinen Körper zerrissen.
Oder durfte man doch hoffen? Er setzte sich auf und faßte nach den Händen seiner Frau. »Tarphon hat mir versichert, Antiochos sei ein vernünftiger Mann. Er singt und tanzt wie die anderen Griechen auch, und er will nur, daß man ihn liebt. Wenn man nur den großen Kopf aus Stein sieht, soll man noch nicht denken.«
»Jehubabel!« kam geisterhaft die Stimme Paltiels und rief ihn in die Wirklichkeit zurück.
Und so hatte an diesem Abend und in diesem Hinterzimmer Jehubabel als einer der ersten Menschen in der Geschichte sich mit dem Geheimnis der Juden auseinanderzusetzen. »Warum will er als Märtyrer leiden? Ein so nichtssagender Mann wie Paltiel? Warum stellt gerade er sich gegen das Reich?« Jehubabel wollte immer noch nicht einsehen, daß lebenswichtige Entscheidungen von dem brechenden Auge eines sterbenden Glaubenszeugen und von der mahnenden Stimme eines Mannes erzwungen werden sollten, der das gleiche Schicksal auf sich zu nehmen bereit war.
»Jehubabel!« kam abermals die fordernde Stimme. »Muß ich allein meinen Sohn weihen? Sag es mir gleich, wenn du Angst hast.« Und dem lauschenden Paar war die Stimme draußen zur Stimme des HErrn geworden.
Langsam, von Kräften getrieben, die er selbst nicht begriff, die aber das Judentum für alle folgenden Jahrhunderte beherrschen sollten, nahm Jehubabel das Messer auf, wickelte es in das Tuch und steckte es in seinen Gürtel. »Ich muß gehen«, sagte er zu seiner Frau. »Der alte Mann blickt auf mich.« Sie begleitete ihn zur Tür, wo sie ihn segnete, denn am Ende seines Todeskampfes hatte der Alte auch sie angeblickt.
Der schwitzende schwere Mann
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