Die Quelle
Bresche zeigte. Jeder Mann dieser ersten Welle trug eine Lederrüstung und war durch Eisenschilde, bezogen mit Rinderfellen, geschützt, die alle von der Mauer geschleuderten Steine abprallen ließen. Die Römer rückten Welle um Welle vor und versuchten, das einstige Glacis von Makor, jetzt einen sehr steilen, in der mit Zinnen bewehrten Mauer gipfelnden Abhang, zu erklettern, erreichten jedoch nichts und verloren nahezu hundert Mann, während kein einziger Jude gefallen war.
Am Abend konnte Josephus den Verteidigern gut zureden: »Heute haben die Römer lernen müssen, daß sie Makor nicht einnehmen können. Wenn wir überall und immer bereitstehen, werden sie bald den Mut verlieren. Morgen ist der entscheidende Tag. Schlaft gut.«
Seine Voraussage war richtig. Gleich nach Morgengrauen ließ Vespasian sehr starke Verbände das Tor berennen und griff die Mauer nur mit schwächeren Einheiten an. Josephus aber hatte seine Mannschaften so geschickt verteilt und sie mit Felsblöcken, Steinen, Säcken voller Scherben und Speeren so gut ausgerüstet, daß er vierzehn römische Angriffe abweisen konnte. In der Abenddämmerung bot Vespasian einen Waffenstillstand an, um die Verwundeten und die zahlreichen Toten bergen lassen zu können. Zur Verhandlung kamen Titus und Trajanus an die Mauer, und wiederum schob Josephus Jigal nach vorn. Die beiden Römer erklärten, Vespasian sei vom Kampfgeist der Juden sehr beeindruckt und wünsche, ihnen eine ehrenhafte Übergabe anzubieten. »Niemandem soll ein Leid geschehen, und eure besten Truppen will der Feldherr auffordern, sich seinen Legionen anzuschließen«, rief Titus hinauf. Josephus aber flüsterte: »Ablehnen!«, und Jigal gehorchte. Als die Abordnung sich entfernt hatte, unterrichtete Josephus seine Truppen über das, was sie aller Voraussicht nach am folgenden Tag von den Römern zu erwarten hatten.
Tatsächlich hatte er ihr Vorgehen abermals richtig vorausgesagt, und abermals wurden die Römer mit schweren Verlusten zurückgeschlagen. Es war nun deutlich, daß Makor nicht im frontalen Angriff genommen werden konnte. Am dritten Tag erfolgte daher kein allgemeiner Sturm; die Römer brachten vielmehr ihre Kriegsmaschinen in Stellung und begannen so eine regelrechte Belagerung. Und wieder bewies Josephus, ein wie findiger Feldherr er war: Er wußte genau, wie schnell die Römer ihr schweres Gerät von einem zum nächsten Punkt bewegen konnten, und er kannte alle Arten der Verteidigung auch gegen die Maschinen. Bei jedem Angriff änderte er seine Taktik; als es Vespasian endlich doch gelungen war, einen der fahrbaren Belagerungstürme bis an die südliche Mauer zu bringen, befahl Josephus seinen Männern, so lange Verwirrung in den eigenen Reihen vorzutäuschen, bis die größtmögliche Zahl von Römern auf dem Turm war; erst dann ließ er den Turm mit einem Schauer von Steinen, Speeren und brennenden Holzscheiten überschütten. Der Wandelturm ging in Flammen auf, stürzte in sich zusammen und begrub zahlreiche Legionäre unter seinen rauchenden Trümmern. Am Abend dieses Tages kam Vespasian selbst zur Mauer. Noch einmal bot er Makor ehrenhafte Übergabe an, und abermals wich Josephus dem Gespräch mit dem Römer aus: Wieder schickte er Jigal vor. Zum zweitenmal standen die beiden ergrauten Männer einander gegenüber, Vespasian mit seinem Feldherrnstab, umgeben von zwölf Offizieren, Jigal im abgetragenen Baumwollrock. »Mit wem spreche ich?« rief der massige Römer. »Ich bin Jigal.«
»Kraft welcher Befehlsgewalt sprichst du für die Stadt?«
Jigal wußte keine Antwort. Er besaß keinerlei Befehlsgewalt, war nichts als ein redlicher Mann, den seine Nachbarn schätzten. Er war weder Feldherr noch Gelehrter, weder Handwerker noch Händler. Deshalb blieb er stumm, und Vespasian rief: »Jigal, was bist du?«
»Ich arbeite bei der Ölpresse«, antwortete der kleine Jude.
Unter den Römern gab es lautes Gelächter. Selbst Titus, der Sohn Vespasians, lächelte: Ein Landarbeiter verhandelt mit einem drei Legionen befehligenden Heerführer! Vespasian hingegen lachte nicht. Sein Leben lang hatte er unter Spott zu leiden gehabt, weil er keiner Patrizierfamilie entstammte, sondern Kind kleiner Leute aus dem Sabinerland war. Aus eigenster Erfahrung wußte er von der zielbewußten moralischen Kraft, die ein solcher Mann zu entfalten vermag. Höflich rief er darum: »Jigal, Arbeiter bei der Ölpresse, Kaiser Nero fordert euch durch mich auf, eure Stadt zu öffnen.«
»Das
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