Die Quelle
das unbarmherzige Gesetz dar: »Warum muß Menachem allein spielen? Weil er ein Hurenkind ist. Warum ist er ein Gezeichneter? Weil er ein Hurenkind ist. Warum wird er, zum Mann herangewachsen, kein Weib finden? Weil du dich gegen das Gesetz versündigt hast.«
»Nein!« schrie der Handwerker außer sich. »Nie und nimmer erkenne ich dieses Gesetz an!« Mit dieser Drohung endete die erste der vielen Auseinandersetzungen, die er mit dem Rabbi haben sollte.
Während des vierten Gesprächs fragte Rabbi Ascher: »Warum lehnst du dich gegen das Gesetz auf, Jochanan?«
»Weil ich entschlossen bin, meinen Sohn zum Juden zu machen. hier in Makor.«
»Das kann und wird nie geschehen.«
»Aber wie soll er sonst leben können?«
»Als ein Ausgestoßener, der Trost allein in der Tatsache findet, daß diejenigen, die in diesem Leben um der Thora willen leiden, im künftigen Leben Seligkeit finden.« Zum zweitenmal innerhalb der letzten Monate hatte Rabbi Ascher diesen Begriff gebraucht: ein künftiges Leben, und es war eigentlich sonderbar, einen jüdischen Denker derartig reden zu hören, denn in der Thora fand sich für einen solchen Glauben kaum ein Beleg. Unsterblichkeit, Auferstehung, der Himmel als Ort der Belohnung, die Hölle als Pfuhl der Bestrafung - das waren vor allem Lehren des Neuen Testaments. Allerdings hatten die Juden schon während der langen Zeit ihrer Zerstreuung unter Persern und Griechen auch einiges von den Lehren über ein Leben nach dem Tode aufgenommen. Und Rabbi Ascher war überzeugt, daß er keinen Verrat an der jüdischen Lehre beging, als er jetzt versicherte, daß Menachem hier auf Erden ein Leben der Schande ertragen müsse, um einst im Jenseits ein Leben in Glückseligkeit zu gewinnen.
»Warum aber muß er in diesem Leben leiden?« fragte Jochanan. »Er, ein Junge, an dem kein Makel ist?«
»Weil du dich gegen das Gesetz versündigt hast«, entgegnete Rabbi Ascher, und ehe der Steinmetz erneut aufbegehren konnte, fuhr der Grützenmacher fort: »Sechshundertdreizehn Gebote enthält das Gesetz des HErrn. Davon sind dreihundertfünfundsechzig Verbote, für jeden Tag des Jahres eines, und zweihundertachtundvierzig Gebote, eines für jeden Knochen des Leibes. Du bist durch dieses Gesetz gebunden, ich bin durch dieses Gesetz gebunden, und selbst der Heilige, gelobt sei Er!, ist gebunden durch Sein Gesetzeswerk, denn allein auf dieses Gesetz gründet sich alle Ordnung. Dein Sohn kann auf Erden kein Glück finden, und er kann niemals Jude sein. Aber wenn er sich dem Gesetz unterwirft, wird er bei seinem Tod den Loskauf gewinnen.«
»Warum aber Menachem? Warum trifft die Strafe nicht mich?«
»Es steht nicht in unserer Macht«, antwortete Rabbi Ascher, »zu verstehen, warum das Böse gedeihen kann und der Gerechte leiden muß. Erziehe deinen Sohn dazu, sein Schicksal auf sich zu nehmen, damit er anderen ein Vorbild sei.«
»Ist das alles, was du mir zu sagen hast?« grollte der Handwerker. »Es ist das Gesetz«, antwortete Rabbi Ascher.
Im gleichen Jahr 335 begann der Steinmetz mit der Arbeit am Sturz für die westliche Tür der Hauptfront. Seinem Sohn Menachem, der ihm zusah, erklärte er, was er da einmeißelte: »Schau, ich stelle mir vor, daß Reben aus der Erde wachsen, durch den Bogen der Synagoge und die Mauer hinauf, und daß sie uns Trauben bringen. Vier Trauben, jede mit acht Beeren. Genug für zwei Gläser Wein. Eins für dich und eins für mich.«
»Wachsen deine Palmen auch durch den Steinboden?«
»Gewiß. Und sie tragen süße Datteln, die wir zu unserem Wein essen.«
»Und der kleine Wagen? Kommt der zur Tür herein?«
»Ja, mit trabenden Schimmeln bespannt.«
»Was ist in dem Wagen?«
»Das Gesetz«, sagte Jochanan. Mit solcher Hingabe arbeitete er am Bau der Synagoge, die doch als Haus des Gesetzes für ihn gleichsam zum Kerker wurde, daß er am großen Türsturz die Dinge abbildete, die er besonders liebte. Und als dieser schließlich an seinem Platz eingefügt war, als die hölzerne Decke über die acht Säulen des Königs Herodes gelegt und zum heiteren Swastika-Fries noch allerlei steinernes Bildwerk mit Schlangen und Reihern und Eichbäumen gekommen war, um das Auge zu erfreuen, da meinte Jochanan, daß nun sein Werk in Makor vollendet sei und er fortgehen könne. »Ich werde in eine andere Stadt gehen und meinen Sohn mitnehmen. Vielleicht, daß er dort. bei einem anderen Rabbi.« Da aber suchte Rabbi Ascher ihn auf und gab Menachem, der jetzt zehn Jahre alt war und
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