Die Quelle
Familien im Heiligen Land, die sich zweihundert Jahre in direkter Linie hatten halten und ihren Besitz vermehren können. Ja, er hatte Grund, stolz zu sein. Und als ein Mann in der Mitte der Vierzig, kräftig und mutig, glaubte er in dem Alter zu sein, in dem er noch etwas leisten sollte. Aber was er in Acre gesehen hatte, lieferte ihm nur den Beweis, daß seine Welt zerfiel, daß sie kein Ideal mehr hatte und dem Tod entgegentaumelte. Die Bestätigung seiner eigenen Lebenskraft, die er brauchte, vermochte ihm nur noch die uralt-einfache Beziehung zwischen Mann und Frau im Bett zu geben. Einen Abend nach dem anderen zog es ihn in den Fondaco der Pisaner zurück, und jede Nacht verbrachte er mit der schönen Tscherkessin. Wenn die Glocken sie aufweckten, sprachen sie lange miteinander. Sie erzählte ihm ihre Lebensgeschichte: Eine Christin war sie, von Mohammedanern am Stadtrand von Kiew gefangen und an einen Sklavenhändler in Damaskus verkauft. Dort hatte ein Kaufmann aus Pisa, der einen solchen Handel für keineswegs unehrenhaft hielt, sie für die Karawanserei des Fondaco gekauft. Wie diese Stadt Acre, in der sie nun für das Vergnügen der Männer zu sorgen hatte, war sie mit ihrer derzeitigen Lage durchaus zufrieden. Scherzend sagte sie: »Viermal bin ich verkauft worden, und jedesmal habe ich mich verbessert.« Und selbst vom drohenden Krieg sprach sie vergnügt, denn sie war sicher, daß sie auch ihn überstehen werde. »Wenn alles gut geht, wird sich mein Los abermals verbessern.« Ihr Hoffen gab auch Volkmar wieder ein wenig Mut. Und sorglos lachend gingen die beiden zu Bett. Eines Morgens schlenderte Volkmar müßig zu seinem Quartier zurück und ging zufällig durch den Fondaco der Genueser, der jetzt wegen des Krieges zwischen Genua und Pisa zum größten Teil leerstand. Dabei stellte er fest, daß eine Gruppe von Juden, kürzlich aus Frankreich eingetroffen, sich in einer der unbenutzten Karawansereien niedergelassen hatte. Er war nie dazu gekommen, mit einem Juden zu sprechen, ebensowenig wie seine Vorfahren, denn seit jenem Tage des Jahres 1099, an dem der erste Volkmar vergeblich versucht hatte, einige der Juden von Makor zu retten, war fast zweihundert Jahre kein Jude mehr in Ma Cœur gewesen.
Da Volkmar nichts anderes vorhatte, ging er zu den Juden hinüber. Sie hatten eine Färberei eingerichtet. Er sprach ein paar Worte Französisch zu ihnen. Zu seiner Überraschung zeigte sich einer der Juden, ein Dünner mit einem dunklen Bart, recht willig, ja fast eifrig, mit ihm ein Gespräch zu führen. Volkmar, an eine Säule gelehnt, wollte wissen, warum der Jude und seine Freunde nach Acre gekommen waren.
»Es ist unsere Heimat«, antwortete der Jude. »Wo bist du geboren?«
»In Paris.«
»Dann ist doch Paris deine Heimat.«
»Hier ist das Land der Juden«, sagte der Bärtige und stampfte mit dem Fuß auf das Steinpflaster von Acre.
Volkmar lachte. »Dies hier gehört den Italienern, soweit wir wissen. Und den Franken. Und den Deutschen.«
»Und den Arabern«, setzte der Jude lachend hinzu. »Sie scheinen mehr davon zu besitzen als die anderen.«
»Und trotzdem nennst du es deine Heimat?«
»Ja. Solange ich lebe, haben wir jeden Abend gesagt: >Übers Jahr in Jerusalems Das war in Paris. Und eines Tages habe ich mich entschlossen, hierher auszuwandern.«
»Was ist ein Jude?« fragte Volkmar, dessen Interesse plötzlich geweckt war.
Der Färber sah von seiner Arbeit auf, wischte seine Hände ab und ging auf den Ritter zu. »Mose ben Maimon sagt.«
»Wer ist das?«
»Ein großer Denker. er hat hier in Acre gelebt, im letzten Jahrhundert. Man nennt ihn auch Maimonides.«
»Gab es damals Juden in Acre?«
»Natürlich. Maimonides ist von Spanien hierhergeflohen.«
»Gab es Juden in Spanien?«
»Aber sicher. Nachdem man sie aus dem Heiligen Land vertrieben hatte, gingen sie nach Spanien.«
»Wer hat sie aus dem Heiligen Land vertrieben?« fragte Volkmar. Er wußte, daß seine Vorfahren eine große Zahl von Juden getötet hatten, aber er hatte nie gehört, daß.
Der Jude überhörte seine Frage und sagte: »Maimonides hat dreizehn Merkmale zusammengestellt, die einen Juden kennzeichnen. Es sind.«
»Warum kennst du sie? Bist du ein Priester?«
Der bärtige Jude sah Volkmar an und lächelte. Zweihundert Jahre hatte das Geschlecht dieses Kreuzfahrers im Heimatland der Juden gelebt, aber der Ritter wußte nicht, daß die Juden schon lange keine Priester mehr hatten. Der Jude sagte auch nichts
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