Die Quelle
man verbunden. Und Rabbi Elieser sah auf die leere Synagoge. Er dachte an die langen Winterabende und an den milden Schein der Kerzen auf den Gesichtern der alten Männer, die den Talmud studiert hatten. Er dachte an jeden schönen, hoffnungsfreudigen Sabbatmorgen, an dem dreizehnjährige Knaben ängstlich vor den Erwachsenen gestanden und mit heller Stimme verkündet hatten: »Heute bin ich ein Mann.« Wo sollten von nun an die Alten lesen und die Jungen ihr Bekenntnis ablegen? Mit liebevollem Blick umfing er das Dach (auf ihm hatten seit vielen hundert Jahren die Störche genistet, wenn sie im Frühling aus dem Heiligen Land zurückgekehrt waren), die Türöffnung (jeder Reisende war in ihr jederzeit willkommen gewesen) und das gähnend leere Innere (Generationen hatten hier die Lehren in sich aufgenommen, nach denen sie in Frieden miteinander zu leben vermochten). Die Synagoge war eine Quelle des Guten gewesen. Indem die Christen von Gretsch sie zerstörten, hatten sie nur sich selbst geschädigt. In düsteren Gedanken ging Rabbi Elieser nach Hause, langsam, wie ein Mann, der knietief in Asche watet. Daheim aber saß seine Frau ruhig inmitten der Kinder, mit ihnen ganz versunken in die einzige Wirklichkeit von Dauer, welche die Juden je gekannt hatten. »In jenen Tagen besaßen wir eine Stadt auf einem Berge«, erzählte sie, »in der die Menschen aus allen Königreichen freundlich aufgenommen wurden. Jerusalem war ihr Name. In ihren Mauern baute König Salomo nicht eine kleine Synagoge, o nein!, sondern einen Tempel, der auf einem großen Platz stand.
Dieser Platz war so groß, daß man ihn nicht umschreiten konnte. Wenn zwei von euch, Moische am einen Ende und Rachel am andern, angefangen hätten zu rennen, wärt ihr an einem Tag nicht um den ganzen Platz gekommen. Da wuchsen Bäume, und Vögel nisteten darin, und die Kamele tranken an den kühlen Flüssen. Der Tempel war so herrlich, daß König Hiram von Tyrus mit einem Schiff zweihundert seiner Männer hinschickte. Sie sollten sich den Tempel ansehen und ihm berichten, ob er so herrlich sei wie die Tempel von Tyrus. Und zwei von seinen Männern riefen: >Reißt mir die Augen aus, damit ich dem König nicht zu melden brauche, daß ich dieses vollkommene Bauwerk gesehen habe.< Und zwei andere sagten: >Laßt uns im Lande der Juden bleiben, denn wir fürchten uns, unserem König zu melden, wie groß ihr Tempel ist.< Und noch zwei andere, in der Stadt Tyrus sehr hochgestellte Männer, sagten: >Gebt uns Besen, damit wir den Rest unseres Lebens hierbleiben und den Tempel fegen können; er ist so wunderbar.< Und auf diese Weise verlor König Hiram sechs gute Männer!«
»Waren Ställe für Pferde da?« fragte ein Knabe.
»Nicht im Tempel«, erklärte Lea, »aber an den Rändern der nächstgelegenen Felder waren viele Ställe voll schneller Pferde. Und Knaben und Mädchen wie ihr bestiegen die Pferde und ritten wie der Wind. Ach, so schnell seid ihr über die Wiesen und die Straßen geritten. Und wenn ihr an einen Bach gekommen seid, habt ihr euch vorgelehnt und eurem Pferd die Sporen gegeben. So.!« Lea fuhr mit den Händen durch die Luft. »Ihr seid mit dem Pferd über den Bach geflogen und habt auf der anderen Seite sicher aufgesetzt. Und weiter ging’s. Immer weiter seid ihr geritten, und erst nach langer Zeit habt ihr angehalten und eure Pferde gewendet - und was glaubt ihr, was ihr da gesehen habt?«
»Den Tempel?« fragte ein Junge. »Ja«, sagte sie.
Rabbi Elieser setzte sich auf einen Stuhl in die Ecke und verbarg das Gesicht in den Händen. Als Lea ihn so sah, glaubte sie, daß er weine. Darum bat sie die Kinder, sie möchten nun spielen gehen. Inzwischen aber hatten die Christen Pferde und Wagen in die enge Gasse geschickt, um die Trümmer der Synagoge fortzuschaffen. Deshalb brachte Lea die Kleinen in eine andere Wohnung des Hauses, damit sie die Entweihung nicht mitansehen mußten. Erst dann ging sie zu ihrem Mann.
Er weinte nicht. Denn Rabbi Elieser bar Zadok gehörte nicht zu denen, die im Unglück weinen. Doch manchmal spürte er auf seinen Schultern eine übergroße Last, und jetzt war es ihm, als drücke sie ihn zu Boden. Als Lea ihn so leiden sah, brach sie in Tränen aus. »Unsere schöne, schöne Synagoge«, rief sie
- und diese Synagoge war doch nur das Zerrbild eines Gotteshauses gewesen, ein elender Schuppen, aber immer noch zu groß, als daß die Christen sie geduldet hätten. Und jetzt war sie nicht mehr. »O Gott Israels, welch
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