Die Quelle
aufgeben solle oder nicht - hörte er draußen auf dem Kopfsteinpflaster gedämpfte Schritte. Einer jähen Eingebung folgend, prüfte er schnell, ob die Verstecke, in denen er sein Geld verwahrt hatte, auch sicher waren. Er war kaum damit fertig, als die Tür aufgestoßen wurde und acht Juden mit Schläfenlocken unter der Pelzkappe und im langen Kaftan auf ihn zu stürzten, ihn packten und vor ein rabbinisches Gericht schleppten, das im Viertel der Aschkenasim zusammengerufen worden war. Düster und unheilverkündend war der Ort, an dem drei Rabbiner darauf warteten, den Festgenommenen zu verurteilen. Die Klage gegen Hakohen wurde auf jiddisch verlesen: »Er ist kein Angehöriger unserer Gemeinde. Er beachtet das Gesetz nicht streng genug. Er studiert auch nicht in der Synagoge. Er hat sich abfällig gegen Lipschitz geäußert, dem er schon in Wodsch verdächtig vorgekommen ist. Er stiftet Unruhe mit seiner Narretei, Land zu kaufen und Juden als Bauern arbeiten zu lassen.« Während die unsinnigen Phrasen vorgebracht wurden, dachte Schemuel: Die wahre Beschuldigung sprechen sie nicht aus - daß ich ihre gewohnte Lebensweise gefährde. Denn davor fürchten sie sich.
Dann wurde das Urteil gefällt. Es klingt unglaublich, daß ein solches Urteil noch im Jahre 1880 möglich sein konnte. Aber es war möglich - als Folge der türkischen Gewohnheit, jeder Glaubensgemeinschaft die Regelung ihrer eigenen
Angelegenheiten selbst zu überlassen. Und das war das Urteil:
»Schemuel Hakohen wird zu einer Geldstrafe in Höhe seines Besitzes verurteilt. Er soll entblößt, gesteinigt und aus Tabarije ausgestoßen werden. Er soll Erez Israel verlassen und fürderhin nicht den Glauben unserer Väter stören.« bevor Schemuel Einspruch erheben konnte, begann bereits die Vollstreckung des Urteils. Jüdische Männer legten Hand an den kleinen russischen Juden und zerrten ihm die Kleider herunter, bis er nackt dastand. Die Taschen seiner zerrissenen Kleidungstücke wurden nach Geld durchsucht, das man dem Gerichtshof überreichte. Dann wurde er in eine Ecke der
Mauer getrieben. Und nun prasselten Steine auf den
Wehrlosen. Stein um Stein wurde geworfen, ohne Rücksicht darauf, ob ein Stein ihm ein Auge ausschlagen oder ihn gar tödlich treffen konnte. Vielleicht wäre Schemuel Hakohen zu Tode gesteinigt worden, wenn nicht einer der rabbinischen Richter Einhalt geboten hätte. Daraufhin schleifte man den blutenden Gefangenen zum großen Stadttor hinaus und warf ihn draußen vor die Mauer. Dann zog die aufgebrachte Menge zu seiner Hütte, wo sie den Lehmfußboden aufriß in der Hoffnung, verstecktes Gold zu finden.
Da aber griff der Kaimakam Tabari ein. Seine Gendarmen erfuhren zwar, daß bei den Juden ein Strafvollzug im Gange sei, aber was kümmerte sie das? Mochten die ihre Leute bestrafen - das war nicht Sache der Regierung. Immerhin hatte ein Gendarm seinem Kaimakam Bericht über das ungewöhnlich harte Urteil erstattet. »Sagtest du Hakohen? Der Jude aus Rußland?« Als er sicher war, daß es sich tatsächlich um den kleinen Landaufkäufer handelte, den man gesteinigt hatte, befahl er seine Gendarmen zu sich und begab sich mit ihnen zum Stadttor. Im Schein der Fackeln fand er den nackten, blutüberströmten Juden ziellos draußen vor der Mauer umherirren.
»Bringt ihn nach Hause«, befahl Tabari. »Du und du und du!« schrie er einige in der Nähe herumstehende Juden an. »Gebt ihm eure Kleider.« Als ein Gendarm meldete, daß Beauftragte des rabbinischen Gerichtshofs Schemuels Hütte niederreißen wollten, eilte Tabari sofort dorthin und befahl: »Fort hier! Auseinander! Schert euch nach Hause!«
Als Schemuel wieder in seinem trostlosen Zimmer war, sah er als erstes voller Dankbarkeit, daß denen, die seine Hütte durchsucht hatten, das Geld für den Landkauf nicht in die Hände gefallen war. Da lag er nun auf seiner Matratze, viel zu erschüttert, als daß er hätte weinen können. Das Urteil des Gerichts war so unerwartet gekommen, die Strafe so grausam ausgefallen, daß er froh sein konnte, mit dem Leben davongekommen zu sein. Warum aber hatte sich der Kaimakam eingemischt? Schemuel fand dafür keine Erklärung. Während er seine Wunden mit einem schmutzigen Lappen abwischte, fragte er sich: Hat er mir nur deshalb das Leben gerettet, damit er mir auch noch das Letzte abpressen kann? Nein - dieser Gedanke ist meiner unwürdig. Denn ich kann
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