Die Quelle
soll frei in seinem Hause sein ein Jahr lang, daß er fröhlich sei mit dem Weibe, das er genommen hat.«
Gottesmann dachte betrübt über sein eigenes Schicksal nach und blickte von dem Kalender auf, mit dem er gerade beschäftigt war. Ich habe ein neues Haus, sagte er sich, ich habe einen Weinberg gepflanzt, und ich habe ein Weib. Mose Rabbenu muß ganz besonders mich im Sinn gehabt haben, und ich will zu Hause bleiben, sonst könnte ich im Krieg sterben.
Dann lachte er nervös auf. Ich bin von diesem Gebot wirklich in besonderem Maß beschützt. Denn hier hat Mose sicher auch an mich gedacht: »Und die Amtleute sollen weiter mit dem
Volk reden und sprechen: Welcher sich fürchtet und ein verzagtes Herz hat, der gehe dahin und bleibe daheim.« Er stand von seinem Schreibtisch auf, an dem er Daten aus dem Kalender zusammengestellt hatte, und horchte kopfschüttelnd auf den Küchenlärm: Seine Frau kochte das Abendessen. Isidor Gottesmann war ein großer, magerer, asketisch aussehender Jude mit eingefallenen Wangen und tiefliegenden Augen, die unter dunklen Brauen hervorsahen. Er schien kein besonders empfindsamer Mann zu sein, eher zurückhaltender und selbstbestimmter als die meisten anderen. Seine Gewohnheit war es, die Lippen zwischen seine ebenmäßigen Zähne zurückzuziehen und auf die Innenfläche seiner Wangen zu beißen. Wenn er die Thora zitierte, bediente er sich des Hebräischen, aber er dachte auf Deutsch, (denn das war seine Muttersprache; er sprach außerdem ein vorzügliches Englisch, nur mit einem geringen jüdisch-deutschen Akzent): Und Gott weiß, daß ich unter dieses letzte Gebot falle, denn ich bin recht feige geworden. »Welcher sich fürchtet und ein verzagtes Herz hat.«, das trifft genau auf mich zu.
Er schüttelte den Kopf und rief auf hebräisch, aber mit starkem Akzent: »Ist das Essen bald fertig, Ilana?«
Aus der Küche des weißgestrichenen Hauses drang eine herzhafte, fast männliche Stimme: »Kümmre dich um deine Zahlen und überlaß mir das Kochen.« Gottesmann wandte sich wieder seinem Kalender zu und beendete seine Rechnerei, indem er sich genau an die Spalten hielt, die er mit dem Lineal in sein Heft gezogen hatte: Heute abend, 12. April 1948, Sonnenuntergang um 18.08. Morgen früh, 13. April 1948, Sonnenaufgang 05.13. Wenn wir noch fünfundvierzig Minuten Helligkeit nach Sonnenuntergang und vor Sonnenaufgang zuzählen, haben wir. Er subtrahierte und schrieb dann das wichtige Ergebnis nieder: Wir haben ungefähr neuneinhalb Stunden Dunkelheit, um zu tun, was getan werden muß.
Sorgsam legte er den Bleistift hin und ließ den Kopf auf den Kalender fallen. Er konnte erraten, was getan werden mußte und wer den Befehl erhielt. Nach einer Weile hob er mit einer müden Bewegung den Kopf. Unser Lehrer Mose hätte es in einem einfachen Gebot zusammenfassen können: »Welcher aber des Krieges müde ist, der gehe hin und bleibe in seinem Hause.« Er biß sich auf die Wange und murmelte: »Ich bin verzagten Herzens und fürchte mich, und ich kann einfach nicht mehr.«
Als Junge von elf Jahren hatte er in Gretsch erlebt, wie der große Wahnsinn 1933 das Rheinland ergriff, und er hatte verstanden, warum sein Vater ihn 1935 nach Amsterdam schickte. Nach Kriegsbeginn schloß er sich einer jüdischen Untergrundbewegung an, die auf gut Glück operierte und Flüchtlinge über die deutsche Grenze brachte. Englische Agenten, die nach Holland kamen, waren auf die Gruppe gestoßen, hatten ihr einige erfahrene Anführer beigegeben und den Auftrag zu Brückensprengungen erteilt. Gottesmanns Fähigkeiten wurden von diesen Engländern rasch erkannt; man schickte ihn zu ihrer Untergrundorganisation nach Antwerpen und von dort aus über den Kanal nach Folkestone, wo er eine solide englische Erziehung erhielt. 1942 war er in die englische Armee eingetreten und hatte als Unteroffizier im Nachschubdienst Lysol für Latrinen ausgegeben, wurde dann aber bald einem Geheimkommando in Syrien zugeteilt, dessen Aufgabe es war, dafür zu sorgen, daß Damaskus außerhalb der Reichweite von Vichy-Frankreich und Deutschland blieb. Später, als sich die Angst vor Rommel gelegt hatte, kämpfte er in Italien; dort war er zum erstenmal Angehörigen der Jüdischen Brigade aus Palaestina begegnet und hatte eine Ahnung von dem bekommen, was ein freies Israel bedeutete. So war er bereit gewesen, beim Hineinschmuggeln illegaler Immigranten zu helfen. Neun Jahre, von 1939 bis Ende 1947, hatte er Krieg geführt, und jetzt
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