Die Quelle
dahinzogen, gleich hinter den Hügeln von Tiberias. Für Ilana war Gottes Aufteilung des Landes Kanaan unter die Zwölf Stämme vor dreitausend Jahren genauso eine Realität wie die Teilung des Landes durch die Vereinten Nationen, die in einigen Wochen stattfinden sollte: Kefar Kerem lag an der Grenze zwischen den Gebieten der Stämme Naftali, Isaschar und Manasse, und aus diesem Land hier waren die Kinder Israel einst in die Gefangenschaft geführt worden. Der Berg Tabor stand noch immer als größte Erhebung im Norden, und der See Genezareth war geblieben, wie ihn der Prophet Jesaja beschrieben hatte. Für eine Sabra wie Ilana war die Bibel Wirklichkeit. In den Weinbergen ihres Vaters hatte sie jüdische Münzen gefunden, die von den Makkabäern geprägt worden waren, und sie konnte sich an den Tag erinnern, an dem ihr Vater sie nach Bet-Schan mitgenommen hatte, um die neuesten Ausgrabungen zu besichtigen. Als er damals auf die bekannten Orte in der Ebene von Jesreel zeigte, hatte er gerufen: »Warum hat er das bloß getan?«
»Was getan?« hatte Ilana gefragt.
»Seine Truppen hier in Gilboa gelassen, der Tölpel, während der Feind drüben bei Sunem sein Lager aufschlug.«
»Wer?«
»König Saul«, hatte ihr Vater geantwortet. Für die Juden von Kefar Kerem war Saul eine Gestalt der Geschichte, keine schattenhafte Figur in einer frommen Chronik, und dasselbe galt für Gideon, David und Salomo.
Wie die meisten ihrer Freunde und Freundinnen, deren Eltern entweder nicht fromm oder gar heftig antireligiös waren, hatte Ilana Hakohen keinen biblischen Namen. Ihr Vorname bedeutete Baum und erinnerte an die alte fruchtbare Erde. Andere Mädchen hatten klangvolle Namen, wie Aviva (Frühling) oder Ayelet (Rehkitz) oder Talma (Furche). Junge
Männer hießen oft Dov (Bär) oder Arieh (Löwe) oder Dagan (Gerste). Ilana war fest entschlossen, ihre und Gottesmanns Kinder weder Sara noch Rachel, weder Abraham noch Mendel zu nennen; sie wollte nichts von den alten biblischen Namen wissen, und von den osteuropäischen auch nichts. Und ihre einzige Enttäuschung war die, daß ihr Mann seinen deutschen Namen leider beibehalten hatte - einen Namen, der, ihrer Meinung nach, nichts mit dem neuen jüdischen Staat zu tun hatte. Es ist schwierig zu sagen, ob Ilana und ihr Vater fromm waren oder nicht. Einerseits liebten sie die Bibel als das große literarische Lehrbuch ihres Volkes. Auf der anderen Seite verachteten sie, was die Rabbinen daraus gemacht hatten. »Ein Gefängnis!« rief Netanel Hakohen. »Und die Talmudrabbinen, die hier in Tiberias gewirkt haben, das waren die Schlimmsten, indem sie alles, was nach Gottes Willen hätte frei sein sollen, in enge kleine Kästchen preßten.« Und über das Werk der späteren Rabbinen von Safad sprach er nicht freundlicher. »In ihrem Exil, in Spanien und in Deutschland, sind sie auf viele bigotte Ideen gekommen, und hier haben sie sie uns auf gezwängt.« Es gab andere Siedler von Kefar Kerem, die das rabbinische Judentum so fürchterlich fanden, daß sie noch viel weiter gingen als Netanel Hakohen. Diese Juden waren sogar bereit, Gott und, Mose aufzugeben.
Ilana kannte einige von diesen Freidenkern und fand ihre Argumente überzeugend, wenn sie sagten: »Wir sind Juden, und es ist unsere Aufgabe, Palaestina zu erobern. Wenn wir das tun, brauchen wir keine Rabbinen aus Polen und Rußland, um uns sagen zu lassen, wie wir das Land regieren sollen.« Die Frauen und Mädchen dieser Gruppe waren in ihrer Ablehnung meist besonders heftig, und von einer - sie hatte längere Zeit in Amerika gelebt und studierte jetzt an der Universität - hatte Ilana den Ausdruck aufgeschnappt, der für sie das Glaubensproblem am besten zusammenfaßte: »Dieser
Mickymaus-Kram.« Unter Ilanas Freundinnen hatte sich ein sonderbarer Kult entwickelt, den man sich nur zu erklären vermochte als entstanden aus einer Verbindung der tiefen Liebe für die Bibel mit einem ebenso tiefen Mißtrauen gegen die institutionelle Religion, wie die Mädchen sie unter den Juden Galilaeas praktiziert sahen. Viele Mädchen weigerten sich rundweg, nach den alten rabbinischen Vorschriften zu heiraten. »Ich, und ein rituelles Bad nehmen?« hatte Ilana protestiert. »Eher springe ich in zehn Tage altes Viehwasser, als daß ich nackt in diese Mickymaus-Brühe steige.« Ihre Freundinnen suchten sich die Männer aus, mit denen sie leben wollten, und binnen kurzer Zeit erwarteten sie ein Kind und wurden gute Mütter und
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