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Die Quelle

Titel: Die Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A Michener
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ihren Arm. Schweigen. Er preßte ihn wieder. Endlich sagte sie auf Hebräisch: »Es tut mir leid.«
    »Auf Jiddisch«, flüsterte Gottesmann.
    »Es tut mir leid«, wiederholte seine Frau auf Hebräisch. Er preßte ihren Arm aufs neue, daß es weh tat, und zum drittenmal sagte sie auf Hebräisch: »Es tut mir leid. Auf der Straße habe ich vor Scham geweint.« Sie riß ihren Arm los und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.
    Gottesmann, völlig gedemütigt durch diese Szene, wollte seine Frau aus dem Zimmer ziehen, in dem sie sich so beleidigend aufgeführt hatte. Aber da sagte die Rebbezin: »Kinder, es ist Passah. Ihr sollt hier Elia begrüßen.« Sie drängte Gottesmann und Ilana zurück zur Mitte des Zimmers -hier sollten die beiden mit ihr feiern, ihr, wie sie glaubte, letztes Passahfest. »Sucht den Sauerteig«, flüsterte sie mit der Begeisterung der Jugend. Gottesmann fühlte ein Schluchzen in seiner Kehle hochsteigen, als er merkte, daß die alte Frau an diesem Passahfest des Untergangs kleine Stücke gesäuertes Brot in ihrem Haus verborgen hatte, obwohl sie nicht hatte wissen können, daß sie Besuch bekam. Daher suchte er, halb fassungslos, halb in Kindheitserinnerungen gefangen, an den nächstliegenden Stellen und rief wie einst als Kind in Gretsch: »Mutter, ich habe Sauerteig gefunden, den du übersehen hast.« Und beschämt, als sei sie eine schlechte Hausfrau, verbrannte die Rebbezin das Brot im Feuer, wie die Thora es vorschrieb. So wurde das Haus gereinigt. Die alte Frau brachte ihren Gästen wacklige Stühle und bot ihnen einige armselige Speisereste an, die sie für das heilige Fest gespart hatte: die bitteren Kräuter, das ungesäuerte Brot, aber kein Fleisch, denn bei den Juden von Safad herrschte Hungersnot. Aber zwei Rüben hatte die Rebbezin doch noch auftreiben können und daraus ein Schüsselchen der traditionellen roten Suppe gekocht, die das Rote Meer darstellt - im alten Rußland, ja, da hatte sie Eimer voll davon für das Passahfest zubereitet. Dann schnallte ihr Mann seinen Gürtel enger, zog seine Sandalen an und nahm einen Stab in die Hand, um bereit zu sein, sofort aufzubrechen, falls der HErr es befahl. Alles geschah, wie es geschehen mußte: Die vier Feiernden schlugen kleine Stücke ungesäuerten Brotes in winzige Päckchen ein, die sie über den Rücken warfen, als seien auch sie Flüchtlinge, die Ägypten verlassen. Und endlich goß der Rebbe ein wenig Safad-Wein in die Gläser, und dann betete er: »Gepriesen seist du, o HErr unser Gott, König des Weltalls, der Du uns am Leben erhalten hast bis auf den heutigen Tag.« Für Gottesmann war dieser Augenblick unerträglich schmerzvoll. Das letzte jüdische Fest, an dem er in Gretsch im Kreise seiner großen und angesehenen Familie teilgenommen hatte, war das Passahfest des Jahres 1935 gewesen. Sein Großonkel Mordechai hatte an jenem Abend das Kiddusch-Gebet gesprochen, und fünfundfünfzig Gläser waren mit Wein gefüllt worden, für Scholem, den Schriftsteller, für Isaak, den Professor der Chemie, für Rahel, eine Bahnbrecherin der Wohlfahrtsarbeit in Hamburg, für fünf Rabbiner, zwei Dichter, drei Musiker und ein paar bekannte Geschäftsleute. Es war ein Passahfest der Lieder und der Sorgen gewesen, denn Gottesmanns Vater hatte vorausgesehen, was kommen mußte. Noch in derselben Woche hatte er seinen Sohn Isidor nach Holland geschickt. Fünfundfünfzig Gläser waren an jenem Abend gefüllt worden, während die große Familie gemeinsam sang: »Ein Kitz, ein Kitz für zwei Susim.« Von den fünfundfünfzig waren alle bis auf zwei in der Hölle der Massenvernichtung umgekommen. »>Wer hat uns diesen Augenblick erleben lassen. <«, betete der Wodscher Rebbe. Gottesmann spürte, daß er sich kaum noch aufrechtzuerhalten vermochte - er fühlte den gleichen Schwindel wie an jenem Morgen zwischen den arabischen
    Dörfern. Sehr vorsichtig schloß er die zitternden Hände um sein Weinglas, um sie wieder in seine Gewalt zu bekommen.
    Nachdem das Gebet beendet war, erhob sich die Rebbezin vom Tisch und öffnete die Tür ein wenig, so daß ein Fremder, der vorbeiging, eintreten konnte, während ihr Mann ein fünftes Glas mit Wein füllte und es beiseite stellte, falls ein Gast kommen sollte. Und dann nahte einer jener Augenblicke jüdischen Lebens, die in ihrem tiefen Sinn unvergeßlich sind. An diesem Abend gewann Gottesmann durch diesen Augenblick seine seelische Kraft zurück. Am Passahfest nämlich, wenn die Juden voll Freude die

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