Die Quelle
Befreiung aus ägyptischer Fron und ihre Flucht in die Freiheit feiern, ist es üblich, daß der jüngste Knabe der Familie im Singsang vier traditionelle Fragen stellt, deren Antworten das Passahfest erklären; und da kein Knabe da war, wandten sich der Rebbe, seine Frau und Gottesmann an Ilana wie an ein geliebtes Kind. Sie errötete.
In der Siedlung Kefar Kerem hatte man die jüdischen Feste nicht gefeiert, denn die dickköpfig freidenkerischen Anhänger Schemuel Hakohens waren der Meinung gewesen, die jüdische Religion sei zum großen Teil veraltet und stelle eine Beleidigung der Vernunft dar. Wenn jedoch einzelne Familien das Passahfest feiern wollten, das ja ein Fest der Freiheit war, so ließ man sie feiern. Netanel Hakohen und seine Frau hatten es nie getan, aber in den Häusern von Freundinnen hatte Ilana mehrere Male das hohe Fest begangen, und so kannte sie den Brauch wenigstens in groben Zügen. Stockend flüsterte sie die berühmte Eingangsfrage: »>Warum ist diese Nacht anders als alle anderen Nächte?<« Und dann stellte sie mit leiser Stimme die erste Frage: »>Warum essen wir an anderen Abenden gesäuertes Brot und nur heute ungesäuertes?<« Die anderen drei Juden sangen die Antwort. Unsicher stotterte Ilana die zweite Frage: »>Warum essen wir an anderen Abenden alle
Arten Grünzeug und nur heute bittere Kräuter?<« Wieder sangen die drei die Erklärung, und sie begann mit der dritten Frage. Aber sie hatte sie vergessen. Gottesmann wurde rot wie ein nervöser Vater, auf dessen Kind Hunderte blicken. Der Rebbe zappelte. Endlich hob die Rebbezin ihre Hände, denn die dritte Frage bezog sich auf das Waschen der Hände, aber Ilana dachte, sie deute auf einen Stuhl. »Ach ja!« rief sie strahlend wie ein glückliches Kind. »>Warum sitzen manche an anderen Abenden lässig und manche unruhig, aber heute abend sitzen alle gelassen da?<« Es war die vierte Frage, aber keiner verbesserte sie, denn eine Gewehrsalve dröhnte aus dem Araberviertel herüber. Gottesmann sprang auf, nahm sein Gewehr und war durch die offene Tür verschwunden.
Unwillkürlich war auch Ilana aufgesprungen und hatte nach ihrem Gewehr gelangt, aber die Rebbezin hielt sie am Tisch des Passahfestes zurück. »Heute ist Passahabend«, sagte die alte Frau und drückte Ilana wieder auf ihren Stuhl. Dann ging sie zur Tür und öffnete aufs neue einen Spalt, während ihr Mann zum nächsten Teil der Feier überging, indem er fragte: »>Warum lassen wir die Tür offen? Warum füllen wir ein besonderes Glas mit Wein?<« und Ilana mußte in dem lieblichen Märchenton antworten, daß die Tür für den Propheten Elia offenblieb, damit er an dem Fest teilnehmen könne. Und wie es der uralte Brauch wollte, wandten sich alle nach der halboffenen Tür um, um zu sehen, ob Elia erschiene. Als Ilana sich umdrehte, betete sie, es möge nicht Elia sein, sondern Gottesmann. Das Schießen wurde heftiger.
Nach den alten Liedern, die der Rebbe mit hoher Stimme gesungen hatte - sie sprachen von der Freude, die den Hebräern widerfahren war, als sie in die Freiheit gelangten, auch wenn diese Freiheit nur die Wüste war ohne Wasser und Brot -, erreichte die Feier jenen eigenartigen und ganz jüdischen Höhepunkt, bei dem alle Beteiligten ein Lied singen, das wie ein einfaches Kinderlied klingt:
»Ein Kitz, ein Kitz, das kauft der Vater für zwei Susim. «
Voll inniger Freude, die auch das Knattern der arabischen Gewehre nicht zu dämpfen vermochte, sangen der Rebbe und seine Frau unter ihrer Perücke von »dem Engel, der den Fleischer schlug, der den Ochsen tötete, der das Wasser trank, der das Feuer löschte, das den Stock verbrannte, der den Hund schlug, der die Katze biß. die das Kitz fraß, das der Vater kaufte für zwei Susim.«
Weder Elia noch Gottesmann traten an jenem Abend durch die Tür. Die drei wartenden Juden saßen während der langen Stunden zusammen, und damals begann jenes behutsam tastende Gespräch, das sich durch die Passahwoche bis in den Mai fortsetzen sollte - während der Zeit, in der es so aussah, als ob es den Arabern doch noch gelingen werde, die Juden zu vernichten. Nur ein außergewöhnlicher Heldenmut rettete in jenen Tagen das jüdische Viertel. Mehr noch: Daß die Juden von Safad durchhielten, war ein Wunder. Man konnte es wahrlich nicht anders nennen, denn die Araber schossen ununterbrochen von allen günstigen Punkten in das Judenviertel und töteten jeden, der sich nicht in voller Deckung bewegte. Und die Juden waren
Weitere Kostenlose Bücher