Die Quelle
öffnete.
»Hagen, sind Sie das? Hat alles geklappt?«
Die Stimme kam aus der Fahrzeugkabine.
»Kemper?«
»Ja - ich bin hier oben festgebunden. Ich hoffe, Sie spielen keine Spielchen.«
»Warum sollte ich?«
»Weil Ferrand keinen Spaß versteht.«
Hagen nahm nur am Rande wahr, dass Kemper den Namen seines Entführers kannte, denn im gleichen Moment verlor er vollkommen unvorbereitet das Gleichgewicht. Sein rechtes Bein wurde von einem Tritt gegen seinen Fuß zur Seite gehebelt, und seine weit ausgestreckten Arme und Hände, mit denen er sich an der Fahrerkabine abstützte, glitten ab.
Hagen stürzte unkontrolliert. Dann riss ihn eine Hand an der Schulter herum. Er starrte in das wütend verzerrte Gesicht von Ferrand.
»Merde!« Ferrand richtete sich auf und drehte den Rucksack um.
Fein säuberlich geschichtete Papierschnipsel regneten auf Hagen herab. Er sah Ausschnitte von Schlagzeilen und Texte. Das waren keine Banknoten.
Vor ihm zog Kempers Entführer seine Pistole und richtete sie auf ihn. Dabei schüttelte Ferrand heftig mit dem Kopf.
Hagen zitterte am ganzen Körper. Es war vorbei. Und statt seines ganzen Lebens, das man ja angeblich in solchen Momenten an sich vorbeiziehen sieht, sah er den Lauf der Waffe übergroß. Nichts sonst. Und ihm war schlecht, elendig schlecht.
»Hagen - alles in Ordnung?« Kempers unsichere Stimme drang aus dem Führerhaus. »Ich höre nichts mehr.«
Ferrand, der dicht vor Hagen stand, bäumte sich kurz auf. Dann fiel er um.
Die Sirenen erinnerten Hagen daran, dass er noch lebte. Plötzlich rasten von allen Seiten Wagen heran, alles war voller Beamter.
Hagen blieb einfach liegen, bis Jost Krüger, der Einsatzleiter des BKA, und Berger zu ihm traten.
»Schön, dass Sie noch unter uns weilen.« Berger blickte rauchend auf ihn herab.
Schwarze Ringe tanzten vor Hagens Augen; er schloss sie, bis der Schwindelanfall nachließ.
»Sie haben mich gelinkt. Da war kein Geld im Rucksack.«
Berger zog heftig an seiner Zigarette. »Es ging nicht anders. Wir konnten das Geld nicht beschaffen. Der Stromausfall ...«
»Sie haben mich angelogen. Was hätten Sie denn gemacht, wenn ich mir tatsächlich das Geld angesehen hätte?«
»Haben Sie aber nicht«, erwiderte Krüger ernst.
»Er hätte mich beinahe umgebracht.« Hagen war immer noch elendig schlecht.
»Als sich abzeichnete, dass es Schwierigkeiten mit dem Geld geben könnte, mussten wir Alternativen planen. Kemper musste auf jeden Fall befreit werden.«
»Sie haben mich als Köder benutzt.«
»Wir haben ihm eine Falle gestellt, und er ist hineingetappt. Das hier am Bahnhof war unsere einzige Motorradstreife. Und wir haben gestern Abend Scharfschützen drüben im Hotel postiert.«
»Wie konnten Sie annehmen, dass ...«
Krüger schnaufte geringschätzig.
»Meinen Sie, wir hätten irgendetwas dem Zufall überlassen? Seit gestern haben wir Leute, die den Ort überwachen. Und die haben den LKW des Technischen Hilfswerks zweimal hier gesehen. Mit der winzigen, aber im Feldstecher gut lesbaren Beschriftung, dass der LKW der Ortsgruppe Greifswald zugeordnet ist. Wir haben es immer und immer wieder durchgespielt, in allen Varianten.«
Hagen sah zuerst den verwuselten Haarschopf Rainer Kempers. Seine Schultern waren vorgeschoben, und zusammen mit dem krummen Rücken wirkte er müde und abgeschlagen.
Kemper saß in Krügers Kommandowagen und berichtete, was in den letzten Tagen seit dem Überfall in Wieck geschehen war. Hagen blieb neben dem Wagen stehen. Von der Seite sah er Kempers bleiche Wange. Kemper beantwortete gerade die Frage, warum die Übergabe ausgerechnet hier hatte stattfinden sollen.
»Ferrand hat nicht viel geredet. Aber ich habe verstanden, dass er hier in der Nähe schon einmal war. Mit seiner Einheit. Zu einer Übung. Hier muss es ein Übungsgelände geben.«
»Das ist richtig«, sagte Krüger. »Nicht weit hinter den Schienen beginnt ein Truppenübungsplatz, der seit zwanzig Jahren von Einheiten aus ganz Europa zum Training von länderübergreifenden Einsätzen genutzt wird. Neben Militäreinheiten üben dort auch Polizeigruppen ihre Zusammenarbeit.«
»Jedenfalls hat er sich daran erinnert und gesagt, der Platz sei so gut wie jeder andere. Da hat er aber falschgelegen.« Kemper lachte kurz. »Egal. Vorbei.«
Seine Stimme strotzte vor Zufriedenheit, und Hagen erinnerte sich daran, dass er bei dem jungen Wissenschaftler noch nie auch nur den Anflug eines Selbstzweifels erlebt hatte.
Hagen
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