Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
seine Furcht zu verbergen. Er wusste, was als Nächstes geschehen würde und versuchte, sich innerlich von Raum und Zeit zu lösen.
Raechen hielt das Messer so, dass es nur Zentimeter von Michaels entblößtem Arm entfernt war. Michael konnte die Hitze der Klinge spüren. Die Männer starrten einander in die Augen. Keiner zuckte mit der Wimper.
Ohne weitere Vorankündigung drückte Raechen die Klinge auf Michaels Unterarm.
Michael löste sich von seinem Körper, schickte den Schmerz an einen Ort, der tief in seinem Unterbewusstsein lag. Er konnte hören, wie die Haut zischte, konnte riechen, wie das Fleisch brannte. Aber er weigerte sich, der Agonie zu erliegen und sich dem Mann zu beugen, der vor ihm stand.
Raechen zog das Messer wieder weg.
»Folter braucht aber nicht immer körperlicher Natur zu sein«, sagte er mit seinem schwachen russischen Akzent, legte das Messer auf den Schreibtisch, schnappte sich einen weiteren Stuhl und rollte ihn direkt vor Michael. Er zog zwei Paar Handschellen hervor und befestigte sie an den Armlehnen. Dann ging er zurück zum Videogerät und drückte auf die Play-Taste. Das Bild des ZIL verschwand. An seine Stelle trat ein Bild, das Michael mit Schmerz und Furcht erfüllte. Es war viel schlimmer als die glühende Klinge – schlimmer noch, als hätte Raechen ihm das Messer ins Herz gestoßen: Michael sah Susan, wie sie seine Wange berührte, als sie vor dem Kreml in dem schwarzen Wagen gesessen hatten.
»Den meisten Menschen ist nicht bewusst, dass der großartigste Aspekt der Folter die Vorahnung ist, die Furcht.« Raechen wies auf den Stuhl, der gegenüber von Michaels stand. »Wenn sie erst mal vor Ihnen sitzt und Ihnen in die Augen blickt, während ich ihr nacheinander jeden Finger einzeln abschneide, und wenn Sie anschließend miterleben müssen, wie sie schreit, wenn ich ihr ein Ohr abschneide … ich denke, dass Sie mir spätestens dann sagen werden, wohin Sie Julian Ziveras Mutter gebracht haben und wo Zivera die Karte versteckt hat, die das Gelände unter den Mauern des Kremls zeigt.«
Die Bilder liefen weiter. Wie ein Voyeur beobachtete Michael, wie er und Susan einander anschauten, wie Susan die Hand hob und ihm das Gesicht streichelte. Die beiden Menschen, die Michael beobachtete, teilten einen wortlosen, zärtlichen Augenblick, der seinen Höhepunkt in einem Kuss fand. In diesem Moment wurde Michael bewusst, wie stark die Gefühle waren, die er für Susan hegte. Er konnte sie sehen, nicht nur auf seinem eigenen Gesicht, auch auf ihrem.
Michael überkamen Schuldgefühle. Obwohl Susan verlangt hatte, bei diesem Unternehmen dabei zu sein, war es Michael gewesen, der es erlaubt hatte. Wider besseres Wissen hatte er ihr gestattet, zur Liberia zu tauchen, wobei sie beinahe ums Leben gekommen wäre. Jetzt waren sie wegen ihm, Michael, hinter Susan her, und es kam ihm so vor, als hätte er ihren Hinrichtungsbefehl unterschrieben. Und was alles noch schlimmer machte: Susan war im Besitz des Rucksacks, in dem die goldene Schatulle steckte.
»Ich will wissen, wohin man Genevieve Zivera gebracht hat«, sagte Raechen.
»Sie wissen doch, dass sie eigentlich in diesem Rettungswagen hätte sein müssen. Ich habe keine Ahnung, wo sie ist. Jemand hat sie uns weggeschnappt.«
»Wer?«, fragte Raechen.
Michael drehte den Kopf zur Seite. »Wozu brauchen Sie sie?«
»Liegt das nicht auf der Hand?« Raechen beugte sich nach unten und schaute Michael mitten ins Herz. »Damit ich sie töten kann.«
Michael erwiderte den kalten Blick seines Kidnappers und begriff endgültig, woran er mit Raechen war: Diesen Mann umgab eine Aura gelassener Skrupellosigkeit und eine Ruhe, die entweder auf bedingungslosem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten beruhte oder auf nacktem Wahnsinn.
»Zivera ist ein scheinheiliger Narr, der den Menschen frommen Altruismus vorspielt, um ein finsteres, machtgieriges Herz zu verbergen. Ich werde ihn leiden lassen. Julian Zivera wird zehnmal mehr Qualen erdulden als mein Sohn. Ich werde nicht ruhen, bis ich euch alle aufgegriffen und ins Jenseits befördert habe.«
»Warum schnappen Sie sich dann nicht einfach Julian? Seine Mutter ist unschuldig, sie sollte nicht leiden.«
»Das sollte mein Sohn auch nicht.«
Was dieser Mann sagte und empfand, erinnerte Michael stark an das, was er selbst gesagt und empfunden hatte, als seine Frau krank geworden war. Zorn auf Gott und die Welt und einen Schmerz, der das eigene Herz zusammen mit der Gesundheit des einen
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