Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
lange Beine und ein Gesicht, das von den besten Schönheitschirurgen zurechtoperiert worden war, deren Dienste sie sich in Beverly Hills von Daddys Geld hatte erkaufen können.
Sheila war extra hergeflogen, um Julian, diesem charismatischen Mann Gottes, persönlich ihren Scheck zu überreichen.
Von Haus aus war sie Protestantin und hatte eine streng religiöse Erziehung genossen, wie sie bei vielen wohlhabenden Amerikanern üblich war. Doch hatte sie später studiert, und die Thesen, die an der Stanford University vertreten wurden, zwangen sie, die Unterschiede zwischen Glaube und Wissenschaft zu erkennen. Dies stürzte sie in innere Zweifel, bis sie ihren Glauben ganz und gar verloren hatte. Zehn Jahre lang hatte sie nichts von ihrer Kirche wissen wollen. Doch als sie älter wurde und auch der dritte Ehemann sie verließ, besann sie sich wieder auf ihren alten Glauben.
Doch statt Gott fand sie Julian. Er wurde all ihren Bedürfnissen gerecht – den religiösen, den medizinischen und körperlichen. Außerdem hatte er unbegrenzten Zugang zu Medikamenten und sah obendrein gut aus. Von seiner Leidenschaft im Schlafzimmer gar nicht zu reden.
Sheila beobachtete, wie Julian sich von ihr löste, über das Parkett des Ballsaals schritt und die Treppe zur Empore hinaufstieg, wo er dann vor einer Schar von zweihundert Gästen stand – allesamt erfolgreich, alle wohlhabend, alle im Abendanzug, und alle blickten sie zu ihm empor in freudiger Erwartung dessen, was er zu sagen hatte. Sie waren eine bunte Mischung aus Akademikern, exzentrischen »Prominenzidioten« und Industrietitanen – launische Seelen auf der Suche nach etwas, für das sie sich begeistern konnten. In ihrem jeweiligen Arbeitsfeld und in den Kreisen, in denen sie Einfluss hatten, waren diese Leute tonangebend, aber hier, bei Julian, spielten sie gerne die zweite Geige und hofften auf einen privaten Augenblick der Einsicht, der ihrem Leben eine Wendung zu geben vermochte.
Obwohl diese Leute die unterschiedlichsten Hintergründe hatten, ähnelte sich ihr Auftreten und die Art, sich zu kleiden, bevorzugt in Smoking und Abendrobe. Jeder war bestrebt, aus der Masse hervorzustechen und Eindruck zu schinden – bei Julian, bei den anderen und sogar bei Gott.
Alle hatten ihre Garderobe mit purpurnen Akzenten versehen: Kummerbund, Hosenträger, Socken, Krawatten, Abendkleider, Juwelen, Haarschmuck. Und es war nicht irgendein Purpur, sondern tyrisches Purpur, das in der Antike kostbarer gewesen war als Gold. Deshalb wurde es die Farbe der Könige, und deshalb war es nun die Farbe von Gottes Wahrheit .
Alle Religionen haben Ehrfurcht gebietende Symbole – Kruzifixe, Davidssterne –, die mit Stolz getragen werden, um sich mit dem persönlichen Glauben zu identifizieren. Ähnliches galt für Gleichgesinnte jeder Art, die durch gemeinsame äußere Zeichen die Solidarität mit »ihrer« Sache bekundeten. Und was das anging, war es bei Gottes Wahrheit nicht anders. Auch ihre Anhänger hatten ihre Symbole, ihre geweihten Andenken. Es war ein Zeichen, das an juwelenbesetzten Halsketten getragen wurde oder auf goldenen Siegelringen prangte, eine Mischung aus dem Zeichen für Unendlichkeit, dem Symbol sich drehender Atome und dem Kreuz Christi auf einem Hintergrund aus tyrischem Purpur, der Farbe, die ihrerseits zu einem Symbol geworden war. Mit diesem Zeichen bekannte man sich voller Stolz zu Gottes Wahrheit .
Julian ließ den Blick über die festlich gestimmte Menschenmenge schweifen, grinste dabei in sich hinein, gab sich nach außen hin aber demütig. Er senkte den Kopf, drückte die Finger gegen die Schläfen und rieb sacht darüber, als würde er sich konzentrieren. Es wurde totenstill im Raum. Die Zeit schien stillzustehen, bis er endlich den Kopf hob und auf sein Publikum hinunterblickte.
»Auf unserem Weg durch dieses Leben halten wir die Aussicht, dass es ein Morgen geben wird, das Geschenk des Lebens, das uns beschert wurde, für selbstverständlich«, sprach Julian und hob dabei die Arme, streckte sie über seine Herde aus, mit bebenden Händen, um seine pathetischen Worte zu untermalen. »Wir vergessen, dass unser Fleisch und unsere Herzen zerbrechlich sind. Wie oft hat der Mensch vergebens am Bett des Vaters oder der Mutter gebetet, als er dabei zusehen musste, wie sie ihren letzten Atemzug taten, während er hilflos zurückblieb in seiner Trauer und seinem Schmerz?« Julian hielt inne und blickte durch den Saal. »Wenn ihr alles tun könntet, um eure
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