Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
bittersüß, was Julian anging. Er war von Geburt an schwierig gewesen, ein emotional zerbrechliches Kind, dessen Grausamkeit niemals nachließ.
Genevieves Entführer kam in den Raum und sah, dass sie wach war. Ohne ein Wort ging er zum Schrank mit den Medikamenten, holte eine Infusion heraus und trat neben Genevieves Trage. Er blickte kurz auf sie nieder, mit sorgenvollem Blick. Schmerz lag auf seinen Zügen. Schweigend tauschte er die Infusion aus, sah sie kurz an und verließ den Raum. Als die Infusion zu tröpfeln begann, konnte Genevieve spüren, wie Nebel in ihrem Kopf aufzogen und wie sie wieder in Schlaf versank. Sie dachte an das Gemälde und die Karte, die sie für Michael zurückgelassen hatte – worüber sie ihm aber nichts hatte erzählen können, da ihre Entführer sie geschnappt hatten, bevor sie Michael anvertrauen konnte, welche Bedeutung die Karte, die sich unter dem Gemälde befand, in Wahrheit hatte.
Und als ihr die Augen zufielen und ihre Gedanken erneut ummantelt wurden von drogeninduziertem Schlaf, rollte ihr eine einsame Träne übers Gesicht. Weder um sich selbst, noch wegen ihrer Gefangenschaft vergoss sie diese Träne, wohl aber wegen der Gefahr, der sie Michael ausgesetzt hatte. Denn er hatte keine Ahnung, was es mit der Karte auf sich hatte, die sich unter der »Unsterblichen« befand, und was das Geheimnis des Albero della Vita war.
Es war jene Schatulle, von der sogar Iwan der Schreckliche überzeugt gewesen war, man müsse sie für alle Ewigkeiten wegschließen. Eine Schatulle, deren Inhalt selbst für den schrecklichsten aller Menschen zu schrecklich gewesen war.
26.
U nter der Stadt Moskau liegt eine Legende verborgen – eine Stadt unter der Stadt. Eine Welt, die an manchen Stellen bis zu zwölf Stockwerke tief ist, und zu der Tunnel und Labyrinthe gehören, Bunker und Katakomben. Weniger als einen Meter unter der Erdoberfläche gibt es versteckte Wohnungen; in hundert Metern Tiefe befinden sich Friedhöfe, von denen Gerüchte behaupten, sie lägen tiefer als die Hölle selbst. Und wie in allen Städten unterscheidet sich auch in Moskau das Volk, das unterirdisch lebt, von seinem Gegenstück auf der Erdoberfläche: Roma – von manchen noch heute Zigeuner genannt –, Hausbesetzer und Prostituierte, Verbrecherbanden, politische Flüchtlinge, Obdachlose. In Moskau ist es ehemaligen Strafgefangenen verboten, im Stadtgebiet ansässig zu werden, was Exkriminelle, die bleiben wollen, dazu zwingt, im wahrsten Sinne des Wortes in den Untergrund zu gehen.
Die achthundertfünfzig Jahre alte Stadt erwies sich als perfekter Ort für alle, die es vorzogen, im Schatten zu leben. Angefangen mit den Großeltern von Iwan dem Schrecklichen, hatte jeder Herrscher der Stadt unter ihren Mauern auf irgendeine Art und Weise seine Spuren hinterlassen, hatte Gewölbe angelegt, um darin Schätze zu verbergen, oder Friedhöfe für diejenigen, die ihm im Weg standen; er hatte palastartige Aufenthaltsorte eingerichtet als Verstecke für den Fall eines Staatsstreichs; er hatte Kirchen erbauen lassen, um darin zu beten; er hatte Räume ausgebaut für heimliche Liebschaften oder um Waffen darin zu lagern. Stalin baute eine unterirdische Eisenbahn, um die loyalen Offiziellen seiner Partei, Waffen und Soldaten in die Stadt hinein- und wieder herauszubefördern. Peter der Große verbrachte einen Teil seiner Kindheit in der verschwundenen Zarinnenkammer. Katharina die Große brachte italienische Handwerker nach Moskau, um die Fluten der Neglinnaja in gewaltige unterirdische Backsteinkanäle umzuleiten.
Michael, Busch und Fetisow standen unter einem hohen Bogengang aus Backstein an den Ufern eines künstlich angelegten Kanals. Vor ihnen tat sich eine gewaltige Grotte auf mit einer gewölbten Decke, die über acht Meter hoch war. Die Lampen in den Grubenhelmen, die die drei trugen, malten tanzende Schatten auf die roten Backsteinwände. Von einem großen See in der Mitte gingen sieben künstlich angelegte Flüsse ab, von denen jeder in seinem eigenen Tunnel verschwand.
Gelangt waren sie in dieses unfassbare Gewirr durch ein Abflussrohr hinter einem Restaurant in Kitai-Gorod, der »Chinatown« Moskaus, obwohl es dort niemals Chinesen gegeben hatte. Dieses Viertel lag nur anderthalb Kilometer vom Kreml entfernt. Nikolai Fetisow hatte die Sehkraft seines guten Auges voll nutzen müssen, um die Gefährten durch eine Reihe von Tunneln zu führen, deren Höhe und Konstruktion sich mit jedem Schritt änderte. Über
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