Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
Leben?«
Michael blickte sie an, erstaunt über die intime Frage. Doch machte er sich klar, dass Susan einen Verlust erlitten hatte, der mit seinem vergleichbar war. Einen Augenblick dachte er nach. Schließlich meinte er: »Ich versuche einfach, den Schmerz wegzustecken und mich damit zu trösten, dass sie jetzt an einem besseren Ort ist.«
»Glauben Sie das wirklich?«
Michael fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, als käme ihm durch diese Geste die Antwort, mit der er gerne aufgewartet hätte. Er sah sie an und sagte mit sanfter Stimme: »Nach allem, was ich gesehen habe, bin ich aus tiefstem Herzen überzeugt davon.«
»Was für ein Mensch war sie?«
»Mary war die Luft, die ich zum Atmen brauchte. Sie war mein Ein und Alles.«
Susan legte den Kopf zur Seite, als wolle sie damit signalisieren, dass sie seine Gefühle nachempfinden konnte. »Niemand kannte mich besser als Peter. Es kümmerte ihn nicht, dass ich so launisch bin …«
Michael schenkte ihr ein süffisantes Grinsen. »Dann muss er die Geduld eines Heiligen gehabt haben.«
Sie lächelte. »Für ihn kam ich immer an erster Stelle. Ich musste niemals auf mich selbst aufpassen oder mir über die Schulter schauen, weil ich wusste, dass er es für mich tat. Und nichts hatte Bedeutung, solange wir beide zusammen waren.«
Michaels Beziehung mit Mary war genauso gewesen. Und genau das war es, was er am meisten vermisste. Die ganz normalen Dinge: einfach nur zusammen zu sein, und einander kleine Gefälligkeiten zu erweisen, bei denen die einzige Belohnung in einem liebevollen Blick bestand. Die Selbstlosigkeit der Liebe ohne persönliche Ziele oder Eifersucht – so schlicht und dennoch so rar.
Susan blickte Michael an. »Sie hätten Peter gemocht. Er wollte immer einen Bruder.«
Michael wusste nicht, was er darauf erwidern sollte.
»Haben Sie Brüder oder Schwestern?«
Michael schüttelte den Kopf. »Ich habe überhaupt keine Familie.«
Susan strich sich das Haar aus der Stirn und lehnte sich zurück auf ihrem Stuhl. »Sie haben einen Vater.«
Wie sie diese Worte sprach, sollte offenbar ausdrücken, dass Stephen immer Michaels Vater gewesen war und es auch immer bleiben würde. Und als er darüber nachdachte, wurde ihm bewusst, dass er anfing, genauso über Stephen zu denken. »Ich denke mal, das stimmt.«
»Er ist ein guter Mensch, Michael. Er ist es wert, gerettet zu werden, mehr als jeder andere, dem ich je begegnet bin.« Susan erhob sich und griff in die Tasche ihres Morgenmantels. Sie zog ein zehn mal fünfzehn Zentimeter großes Foto heraus und reichte es ihm. »Gute Nacht.« Und dann drehte sie sich um und verließ das Zimmer.
Michael beobachtete, wie sie den langen Marmorkorridor hinunterging, bevor er auf das Foto schaute. Es zeigte ein junges Paar. Michael erkannte den Mann, sein pechschwarzes Haar, den athletischen Körperbau. Die Frau indes … eigentlich ein Mädchen, ein Teenager. Ihre blauen Augen blickten ihm vom Foto direkt in die Seele. Michael brauchte nicht nachzufragen um zu wissen, wer sie war. Sie war hübscher, als er erwartet hatte. Und es fühlte sich seltsam an. Als man dieses Foto geknipst hatte, war sie halb so alt gewesen, wie er heute war; sie sah aus wie ein Kind. Michael konnte sich nicht vorstellen, wie es für sie gewesen sein musste, in so jungen Jahren schwanger zu sein. Er wusste, dass sie an den Folgen der Geburt gestorben war, dass sie ihn in diese Welt gebracht hatte, um sie dabei selbst zu verlassen: ein Seelenpaar, das aneinander vorübergeschwebt war auf ihrer beider Weg aus dem und in den Himmel. Sie war ihrer Jahre beraubt worden, genau wie Mary. Michael überkamen Gefühle, die von Liebe über Schmerz zu Bedauern und schließlich Dankbarkeit reichten.
Im nächsten Moment wurde ihm bewusst, dass Susan über die Geistesgegenwart verfügt hatte, dieses Foto zu suchen, bevor sie das Haus in Boston verlassen hatte. Trotz all ihrer Schreierei, Schimpferei und Raserei hatte sie immer noch die Herzenswärme besessen, etwas so Liebes zu tun. Was Busch über sie dachte, war richtig. Ihre raue Persönlichkeit war eine Fassade, ein Schutzschild gegen den Schmerz.
Michael blickte auf, aber Susan war bereits ins Bett gegangen. Noch einmal schaute er auf das Foto, das seine Mutter und seinen Vater zeigte; dann steckte er es in seine Hosentasche, zu Marys Brief.
25.
J ulian stand in der Mitte des Ballsaals, gewandet in einen neuen Smoking, eine hübsche Brünette am Arm. Sheila stammte aus Texas. Sie hatte
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