Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
Mutter oder euren Vater zu retten, wie weit würdet ihr gehen?
Der Tod ist das eine Schicksal, das uns allen bevorsteht. Während die Bibel über das Danach spricht, müssen wir uns an eines der großartigsten Zitate erinnern, die das Buch der Bücher zu bieten hat: Gott hilft denen, die sich selbst helfen. Wir sprechen darüber, Opfer zu bringen und davon, in der Gegenwart auf Genüsse zu verzichten, weil es sich in der Zukunft auszahlen wird. Dies tun wir in unserem Berufsleben, in unserem Privatleben, und manche tun es sogar in der Religion.
Bevor ich euch heute Abend verlasse, möchte ich, dass ihr über ein Thema nachdenkt. Was, wenn jetzt der letzte Tag eures Lebens anbräche? Was, wenn ihr hundertprozentig wüsstet, dass es kein Morgen gibt? Was, wenn ihr wüsstet, dass euch nur noch vierundzwanzig Stunden Leben bleiben? Stellt euch vor, es wäre so weit – und eines Tages wird es trotz all unserer Bemühungen für jeden von uns so weit sein. Schließt die Augen und stellt euch vor, ihr seid am Ende eurer Tage angelangt. All eure Lebenserfahrungen sind gemacht, weitere wird es nicht mehr geben. Zieht es euch da plötzlich zu Gott, weil ihr hofft, in den Himmel zu kommen? Denkt ihr über euer Leben nach, über die Ansammlung von Ereignissen, die ihr erlebt habt? Oder sucht ihr nach einem Weg, einfach nur noch einen Tag länger zu leben?« Julian sah sich im Raum um. Alle lauschten ihm aufmerksam, sogar verzückt.
»Wenn ihr alle Möglichkeiten hättet, euch selbst zu retten, wie weit würdet ihr gehen? Was würdet ihr tun? Und jetzt denkt einen Schritt weiter: Wenn ihr die Gelegenheit bekommen würdet, euch einen weiteren Tag zu kaufen, eine weitere Woche, vielleicht sogar ein weiteres Jahr Leben; wenn ihr in der Lage wäret, euch noch zehn weitere Jahre zu kaufen – welchen Wert würde das haben? Was wäre das Leben euch wert?« Julian hielt inne und blickte hinunter auf die Schar der Gläubigen, schien jedem Einzelnen fest in die Augen zu blicken, sodass alle mit angehaltenem Atem seiner Worte harrten. Endlich hob er sein Glas. »Cent’anni.«
Und in einer Reaktion, die beinahe einstudiert wirkte, hob die gesamte Schar ihre Gläser und rief donnernd aus: »Cent’anni!«
Julian kam die Treppe herunter und nahm Sheilas Arm, und gemeinsam schritten sie durch die Menge, die sich vor Respekt schweigend vor ihnen teilte. »Ich hätte jeden Preis gezahlt, wenn meine Mutter ein Jahr länger hätte leben können«, flüsterte Sheila ihm ins Ohr. »Ist deine Mutter noch am Leben?«
Julian wandte sich ihr zu und sah ihr tief in die Augen. »Das weiß ich nicht.«
Genevieve schlug die Augen auf. Sie geriet nicht in Panik. Sie riss weder an den Gurten, mit denen man sie festgeschnallt hatte, noch versuchte sie, sich von der Trage zu erheben. Sie atmete tief und gleichmäßig und sah sich um. Die medizinische Einrichtung war steril und so strahlend weiß, dass es selbst im gedimmten Licht der Lampen noch hart wirkte. Der Geruch von Desinfektionsmitteln war wie ein Angriff auf ihre Sinne. Sie versuchte, eine Vorstellung davon zu bekommen, wo sie sich befand.
Sie war zweimal aufgewacht während ihrer Entführung – einmal, als man sie in ein Flugzeug getragen hatte, und dann wieder bei ihrer Ankunft an dem Ort, an dem sie sich jetzt befand, wo immer das sein mochte. Jedes Mal war es nur für einen Moment gewesen, zu kurz, als dass sie sich hätte orientieren können, bevor der große Mann ihr sofort wieder Drogen verabreicht hatte. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren und versuchte nun, den Nebel zu durchdringen, der ihre Gedanken umwölkte, und sich zu konzentrieren. Sie wusste nicht, wo sie war oder wer ihre Entführer waren, doch waren deren Ziele offensichtlich die gleichen, die Julian verfolgte: Auch die Entführer wollten an den Albero della Vita herankommen, die goldene Schatulle, von der Genevieve wünschte, dass sie auf ewig vernichtet wurde.
Julian hatte sie immer nur verraten. Er hatte ihr alles genommen und sie mit einem Gefühl der Leere zurückgelassen, das sie seit dem Verlust ihres Ehemannes nie wieder empfunden hatte. Er war vor vielen Jahren gestorben; seither irrte sie allein durchs Leben und hatte nie wieder nach Liebe gesucht, weil der Schmerz über den Verlust immer noch an ihr nagte, obwohl inzwischen viel Zeit vergangen war. Doch sie hatte wieder zu sich selbst gefunden – durch die Freude, Mutter zu sein, die ihr Herz mit Wärme erfüllt hatte.
Aber diese Wärme ließ nach und wurde
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