Die Quelle
dankbar für die Unterbrechung, und holte
sich ihr nächtliches Mahl. Der Appetit war ihr jedoch vergangen. Statt zu
essen, stocherte sie in ihrem Teller und schließlich konnte sie ihren
Zorn nicht länger unterdrücken.
„Du hast es ihr also ausgeredet, ihn herkommen zu lassen?
Woher willst du denn wissen, wie gefährlich er ist? Du warst doch nicht
dabei! Nur weil einige Psychos meinen, ihr irgendetwas einreden zu müssen,
heißt es noch lange nicht, dass es stimmt! Wenn meine Mutter bis heute
daran zweifelt, dann wird sie ja wohl am besten wissen warum! Für ein Mal,
dass sie das Richtige tun wollte, musst du dich da einmischen!“
Zum ersten Mal hatte Lisa in solch bissigem Ton mit ihrer
Großmutter gesprochen und fast bedauerte sie es, als sie sah wie
beleidigt ihre Großmutter wirkte, als sie von ihrem Stuhl aufsprang, als
habe der Zorn sie plötzlich verjüngt. In genau diesem Augenblick
erschien Sandra an der Tür. Sie sah verdutzt zu Veronika, als sie den Zorn
abbekam, den sie nicht verursacht hatte.
„Es ist deine Tochter! Kümmere du dich doch um
sie!“, verkündete Veronika bissig, ehe sie Sandra zur Seite schubste, um
durch die Tür zu gehen. Lisa konnte hören, wie sie laut die Treppe
herauf stapfte. Kurzfristig wirkte Sandra hin-und hergerissen.
Schließlich warf sie Lisa nur einen kurzen Satz zu und eilte ihrer Mutter
hinter.
„Ich bin gleich wieder da, warte bitte auf mich.“
Lisa blieb einmal mehr allein zurück. Die Küche
schien plötzlich geschrumpft zu sein und kaum noch Luft zu enthalten...
Sie war über sich selbst entsetzt. Wie hatte sie ihrer Großmutter das
nur antun können? Sie hatte gerade ihre einzige Vertrauensperson
vergrault, jetzt, da sie sich nach Hilfe sehnte, wie noch nie zuvor! Nur noch
das Ticken der Küchenuhr bot Lisa seine Gesellschaft an. Am liebsten
hätte sie die Uhr an die Wand geworfen! Stattdessen wartete sie reglos auf
die Rückkehr ihrer Mutter.
Lange musste sie nicht Geduld üben. Schon bald kam
ihre Mutter in die Küche zurück. Wie immer wirkte sie etwas blass und
müde. Obwohl es recht warm war, hatte sie dicke Wollsocken angezogen, dennoch
schien sie zu frieren. Ihre Mutter setzte sich so weit von Lisa entfernt, wie
es an dem kleinen Küchentisch möglich war. Man konnte an ihrem
Gesichtsausdruck leicht erkennen, wie unangenehm ihr die Nähe war. Lisa
sah von ihr weg, um nicht zornig zu werden. Ihre Mutter sah sie oft an, als
hätte sie eine ekelige, ansteckende Krankheit. An einem solchen Abend
hatte Lisa kaum die Geduld, das Verhalten ihrer Mutter zu ertragen, doch sie
musste es. Sie fühlte, wie wichtig es war, ihr zuzuhören, so zwang
sie sich selbst zu Ruhe.
„Deiner Oma geht es wieder halbwegs gut, aber du solltest
dich morgen bei ihr entschuldigen.“
Lisa setzte an, um gleich etwas dagegen einzuwenden, doch
mit einer kurzen Geste, gebot ihre Mutter ihr zu schweigen. Diesmal gehorchte
Lisa.
„Hör mir einfach kurz zu. Ich weiß nicht, was
mit uns allen geschieht. Ich kann nicht erklären, weshalb du
plötzlich italienisch kannst und als einzige Erklärung dazu deinen
Vater kennen lernen möchtest. Falls du aber eine Erklärung hast, sag
sie mir bitte. Du könntest du mir vielleicht dabei helfen, eine
Entscheidung zu treffen...“
Lisa schüttelte stumm den Kopf, wodurch sie ihrer
Mutter einen tiefen Seufzer entlockte. Die Wahrheit konnte Lisa ihr nicht
sagen. Zumindest noch nicht. Sie wusste genau, ihre Mutter würde es nicht
ertragen.
„Ist schon gut, Lisa. Ich weiß ja auch keine
Antworten, aber ich kann dir erzählen, woran ich mich erinnere...“
Sie konnte zwar die Gedanken ihrer Mutter in diesem
Augenblick nicht lesen, doch sie war sich sicher, gleich würde sie endlich
die Wahrheit hören.
Die Erinnerungen ihrer Mutter waren noch immer
lückenhaft und diese Lücken hatten Psychologen mit
Missbrauchsvermutungen gefüllt. So viel wusste Lisa schon. Sie war
neugierig, die Geschichte ihrer Mutter endlich aus erster Hand zu hören.
Gebannt lauschte sie auf den unerwarteten Redefluss.
„Dein Vater und ich… Wir haben uns auf Anhieb verliebt,
vielleicht war es auch nur ein Urlaubsflirt. Ich weiß es nicht. Es ist
schon so lange her… Sicher bin ich mir nur darüber, dass ich damals
gedacht habe, den Mann fürs Leben gefunden zu haben. Wir hatten eine
wundervolle Zeit zusammen. Wir haben Ausflüge nach Frankreich gemacht, in
eine Parfümfabrik. Er hat mir die Berge in Ligurien gezeigt. Er war
Architekturstudent, zumindest ist es
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