Die Quelle
das, was er behauptet hat. Er wusste
wirklich viel über die Bauweise in Italien… Und dann hat sich alles
geändert… Wir waren in meinem Zimmer, in einer Ferienwohnung… Ich kann
mich nicht erinnern, was passiert ist. Ich weiß nur noch, wie ich mich gefühlt
habe, als ich wach geworden bin…“
Lisa hörte gebannt zu, doch gleichzeitig versuchte
sie erneut die fremden Klänge in sich zu rufen, die offenbar stets
auftauchten, wenn sich eine ihrer neuen Fähigkeiten bemerkbar machte… Sie
wollte in die Gedanken ihrer Mutter spähen, wie sie es unbeabsichtigt
schon in den vergangenen Tagen getan hatte. Konnte sie ihre neuen Kräfte
auch absichtlich aufrufen und steuern? Sie spürte wie die Klänge in
ihren Geist drangen, sanft, leise… So leicht war es, sie in sich zu rufen!
Als hätte sie es ihr gesamtes Leben lang getan,
drang sie vorsichtig in Sandras Gedächtnis ein… Sie hörte nicht nur
die Worte, die ihre Mutter sprach. Sie sah gleichzeitig die Bilder, an die sie
sich erinnerte. Lisa erschauderte, doch sie ließ zu, dass sie zusammen
mit ihrer Mutter einen Teil der düsteren Vergangenheit durchlebte…
Kapitel 5
…Sandra wurde wach. Sie lag nackt auf dem zu weichen
Bett. Sie spürte Schmerzen auf ihrer Haut und eisige Kälte in ihrem
Bauch, um ihr Herz… in ihrer Seele. Sie atmete tief durch. Was war geschehen?
Plötzlich hörte sie ein zweites Atmen neben
sich. Panisch riss sie die Augen auf und sah neben sich. Reglos lag Daniel bei
ihr auf dem Bett. Unter seinen Augenlidern bewegten sich seine Augäpfel,
als würde er träumen. Sein Körper war schweißgebadet,
dunkle Haarsträhnen klebten an seiner Stirn. Ihr Herz beschleunigte… Sie
erinnerte sich… Sie sah Daniels Gesicht, das sich verzerrte… Sie sah seinen
Mund der sich öffnete. Schwarze Nebelschwaden krochen aus ihm heraus, näherten
sich ihr, kalt, mächtig, bedrohlich.
Sie schrie, als könne ihre Stimme ihre Erinnerung
bannen. Panisch sprang sie auf und rannte aus dem Zimmer. Sie musste fliehen,
raus aus diesem Raum, weg von diesem Monster!
Schnell griff sie nach ihrer Kleidung, nahm diese auf dem
Weg zum Flur mit und zog sich erst dort hastig an, erleichtert Daniel nicht
sehen zu müssen… Fast automatisch griff sie auf der Kommode beim Eingang
nach ihrer Handtasche und verließ rennend das Haus, ohne sich die Zeit zu
nehmen, die Tür hinter sich zu verschließen. Sie rannte bereits die
engen Treppen zur Strandpromenade hinunter, als sie hinter sich Daniel nach ihr
rufen hörte.
Verfolgte er sie? Sie rannte noch schneller, floh vor
ihm. Das Bild seines verzerrten Gesichtes trat in den Vordergrund ihres
Gedächtnisses, als wolle es sie durch die kleine Stadt jagen, als wolle es
sie in den Wahnsinn treiben. Der Taxistand an der Promenade war zum Glück
trotz der späten Stunde besetzt. Der Fahrer war eingedöst, doch als
Sandra in den Wagen stürmte und die Tür hinter sich zuknallte, drehte
sich der kleine, dunkelhaarige Fahrer zu ihr um, und sah sie mit großen,
wachen Augen an.
„San Remo!“, brüllte sie schrill. Der Taxifahrer
musterte sie abschätzig. Ihr wurde bewusst, wie sie auf ihn wirken musste.
Sie war ungekämmt, hatte keine Schuhe an und ihre Kleidung war
zerknittert. Wahrscheinlich erkannte er Sandras Notlage, denn er fuhr los, ohne
Fragen zu stellen.
*
Sandra hatte sich auf eine Bank an einem Gleis des
Bahnhofs von San Remo gesetzt. Sie hielt ihre Handtasche eng an sich
gedrückt: Es gab ihr Halt, dennoch konnte sie nicht aufhören zu
zittern. Ihre Haare fühlten sich verklebt an, einige Strähnen hingen
in ihrem Blickfeld, aber sie hatte nicht einmal die Kraft, sie
zurückzustreifen. Sie konnte es kaum erwarten, den Zug einfahren zu sehen…
Den Zug nach Wien. Weg von hier, zurück nach Hause…
Warten… Sie musste nur noch auf den Zug warten. Sie
bemühte sich, ruhig zu werden, doch es gelang ihr nicht… An etwas
Schönes denken, sie musste an etwas Schönes denken... An die ersten
Tage an der Ligurischen Küste?
Wie idyllisch es ihr vorgekommen war, wie sehr sie das
Rauschen des Meeres geliebt hatte… Daniel… Was war nur aus dem netten,
freundlichen, humorvollen Studenten geworden, den sie in ihm gesehen hatte, als
sie sich kennen gelernt hatten? Was hatte er ihr angetan? Sandra
unterdrückte ein Schluchzen… Und plötzlich sah sie ihn. Daniel. Er
betrat den Bahnsteig. Anscheinend hatte auch er sich nur die Zeit genommen,
seine Jeans und sein Hemd überzustreifen. Wie sie, war er barfuss und
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