Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Titel: Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ju Honisch
Vom Netzwerk:
Jäger die Richtung mal hier und mal da justierte.
    Enygme konnte den Pfiff nicht hören, der die Erdwörge warnte. Sie verschwanden blitzschnell in ihren Höhlen, tauchten mit unglaublicher Wendigkeit in ihre Verstecke. Sie kannten die Gefahr, hatten sie ausgemacht.
    Doch diese war schon mitten unter ihnen. Nicht alle der kleinen Kreaturen waren hurtig genug in die Sicherheit der Höhlen verschwunden. Schon schlugen Krallen sich in einen braunen Pelz, der mit einer roten Weste bekleidet war. Enygme hörte nun einen Schrei wie ein Echo durch die Ohren des Räubers, dessen Wahrnehmung sie teilte.
    Es stand ihr nicht zu, dem Jäger die Jagd zu missgönnen. Er jagte zur Nahrungsbeschaffung und nicht aus Mordlust. Jede Kreatur in Talunys musste leben, wie es ihr beschieden war. Raubtiere waren eben Raubtiere, und mit einem Grauadler war Enygme noch nie eine mentale Verbindung eingegangen.
    Sie hätte diese unterbrochen, doch die Faszination des Schreckens hielt sie fest. Sie spürte, wie die Klauen sich um den sich windenden Erdworg legten. Keine hundertmal gefaltete Schmiedeklinge der Menschen konnte je so scharf sein. Ein zweites Bild drang in ihre Seele, das von Verzweiflung und Todesfurcht durchdrungen war.
    » Fürstin! « , schrie es panisch in ihrem Kopf. Sie ließ es zu, denn sich gegen den Klang zu wehren und wegzuhören, wäre feige gewesen. Talunys war ihr Reich. Doch das Recht auf Leben der Kreaturen, die ihr Reich bevölkerten, beinhaltete das Recht auf Jagd jener, die anders nicht überleben konnten.
    » Fürstin! Hilf! « , ertönte es erneut in ihrem Sinn, und der Grauadler, der nichts anderes getan hatte, als ihr die Wahrheit zu zeigen, begann ihr herzlich zuwider zu sein. Hatte sie ein Recht einzugreifen?
    » Bitte! « , flüsterte sie in den Kopf, der die Welt von oben sah. » Lass ihn! Tu es für mich. «
    » Ist er es nicht, ist es ein anderer. « Die Bedeutung der allzu gleichmütigen Worte sickerte nur mühsam in ihren Sinn. Sie wusste, dass das stimmte. Sie wusste auch, dass ihr Einspruch verlogen war, denn Raubtiere jagten allenthalben, ohne dass sie meinte, sie daran hindern zu müssen. Sie hätte einfach wegsehen können, doch das wäre Verrat gewesen. Wer Dinge zuließ, trug Verantwortung.
    » Fürstin! « , schrie der Erdworg mit verzweifelter Kraft. » Neuigkeiten. Sie wurden gesehen. «
    » Wer? « , fragte Enygme hastig. » Wo? «
    Sie war sich nicht sicher, wen er meinte, doch Esteron und Perjanu kamen ihr sofort in den Sinn. Wusste der Erdworg, dass man sie vermisste? Was wusste die kleine, wuselige Kreatur überhaupt? Oder sprach sie von den Uruschge? Waren die in der Nähe gesehen worden?
    » Fürstin! « , krächzte es nun. » Hilf, dann sage ich dir … «
    Die Stimme erstarb abrupt, und eine klamme, eisige Leere schlug schmerzhaft durch Enygmes Sinn.
    Einen Augenblick lang war es erschreckend still. Wie einzelne Kiesel rieselten Stücke von Begreifen in ihr Denken. Der Erdworg war tot. Sie versuchte, die Verbindung zu unterbrechen, um den Tod nicht zu fühlen. Doch sie spürte immer noch die scharfe Sachlichkeit des großen Räubers; er fühlte weder Genugtuung noch Reue, nur den Erfolg seines Könnens. Routine. Ein Mahl.
    Er hatte ihr einen Einblick geboten, doch eine Lösung verwehrt. Vielleicht hatte er die Worte des Erdworgs gar nicht verstanden? Oder es war ihm einerlei gewesen. Seine Gleichgültigkeit hatte etwas von Verachtung.
    Sie schrie in die abendlichen Wolken:
    » Grauadler! Du … «
    Ihr fiel kein passendes Wort ein. Ihre Sprachlosigkeit war schmerzhaft.
    » Meine Jagd. Meine Beute. Meine Sache « , flüsterte es nüchtern. » Wir sind die Herren der Luft. Euch gehört der Boden, soweit er reicht. «
    » Das war wichtig! « , gab Enygme zornig zurück. » Er hat etwas gewusst. «
    » Um sein Wissen ging es dir? Nicht um sein Leben? «
    Sie schwieg schuldbewusst.
    » Ich missgönne dir die Jagd nicht! « , sagte sie schließlich. » Doch ich brauche Information! Herr der Lüfte, du schuldest mir etwas. «
    » Es gibt keine Schuld « , gab er zurück. » Ich gab, was ich konnte, und nahm, was ich brauchte. «
    » Du schläfst nicht in der Luft, Grauadler. Auch du berührst den Boden. Du bist eine Kreatur von Talunys. Und du schuldest deiner Fürstin etwas. «
    Die Verbindung brach ab. Ein Flügelschlag war nicht zu hören. Raubvögel jagten lautlos. Und dieser war bereits in den Höhen verschwunden.
    Enygme öffnete die Augen. Sie zitterte vor Zorn.

Kapitel 44
    Der

Weitere Kostenlose Bücher