Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
selbst die wenigen, die es konnten, beherrschten es unterschiedlich gut. Die einzige andere Stute, die über wirklich überragende Begabung darin verfügte, war Eryennis. Und die war verschwunden.
Die Menschen hatten Brieftauben. Doch auch die waren nicht absolut zuverlässig. Raubvögel schlugen sie bisweilen. Oder sie verschwanden. In der Nähe der Trutzberge verloren die Tauben ihre Orientierung. Und in die Wolken über den Bergen flog, so weit Enygme wusste, kein Vogel hinein.
Die Hrya blickte in den dunklen Himmel. Für die Tagjäger war es schon zu spät, nächtliche Raubvögel waren nur schwer zu sehen. Lediglich Grauadler mochten noch unterwegs sein. Die riesigen Greifvögel konnten sowohl nachts als auch tagsüber unterwegs sein. Sie waren schnell und mächtig und sehr gefährlich. Sie schlugen Beute bis zur Größe eines Kalbes. Tyrrfholyn fielen freilich nicht in ihr Beuteschema.
Manchmal gelang einem Tyrrfholyn die Kommunikation mit einem von ihnen. Sie waren keine einfachen Gesprächspartner. Ihre Sprache war die von weitflächigen Bildern und scharfem Fokus. Sie konnten übermitteln, was sie sahen, doch es fehlte ihnen der Wille zur Kooperation. Worte waren ihnen unwichtig, und die Erde war nicht ihr Element. Die Tyrrfholyn wiederum waren nicht in den Lüften daheim.
Bei kleineren Raubvögeln war der Gedankenaustausch noch schwieriger. Ihre Gedankenbilder liefen so schnell ab, dass man ihnen kaum folgen konnte.
Dennoch wollte Enygme den Versuch wagen, was hatte sie schon zu verlieren? Sie öffnete ihren Geist und sandte ihre Gedanken in den Nachthimmel. Federfreunde, sandte sie, was habt ihr gesehen?
Zunächst nahm sie nur Stille wahr. Dann öffnete sich die Tür zur Wahrnehmung, allmählich und langsam. Geräusche drangen an Enygmes Ohr, Flattern und Fiepen, Federrascheln, der Schrei eines geschlagenen Nagetiers.
Die Fürstin schloss die Augen und ließ sich in den Geräuschteppich sinken, als tauche sie in eine andere Welt ein.
Federfreunde, wiederholte sie, was habt ihr gesehen? Sie sandte Bilder ihrer Erinnerung aus; von ihrem stolzen Fürsten, von ihrem unbändigen Sohn, von ihrem weisesten Schanchoyi und von Eryennis. Bilder konnten die Vögel besser als Worte verstehen, die ihnen zumeist fremd waren.
Etwas fraß eine Maus, Enygme konnte es beinahe fühlen. Sie würgte. Der Eindruck war allzu deutlich, und Einhörner aßen kein Fleisch.
Dann blickten riesige Grauadleraugen sie an, goldgelb, rund und in die Ferne gerichtet. Sie lenkten den Blick auf das, was diese Augen gesehen und in Erinnerung behalten hatten: Esteron und Perjanu, wie sie in die Fluten sprangen und nicht mehr auftauchten. Von weit oben sah Enygme die Landschaft, den Fluss und die beiden Tyrrfholyn in Menschengestalt vor sich. Sie mussten einen Plan gehabt haben. Doch die Fluten hatten sie nicht wieder freigegeben.
Ertrunken, dachte Enygme und musste sich eisern zusammennehmen, um den Kontakt zu dem großen Greifvogel nicht abzubrechen. Esteron und Perjanu waren ertrunken. Warum hatte sie das nicht gespürt?
Sie mussten angenommen haben, diesem Wasser wieder entkommen zu können. Aber ein Atemzug konnte nicht so lange reichen. Waren sie auf die Uruschge getroffen? Waren ihre Knochen auf dem Grund des Flusses gesunken und trieben nun Richtung Meer?
Obwohl sie diese Möglichkeit nicht wahrhaben wollte, grub sich die Vorstellung in ihr Gehirn, wie mit scharfen Klingen. Sie zwang sich erneut zur Konzentration.
Immer noch lieh ihr der Vogel seine Augen, und sein scharfer Blick schweifte nun weit über die Landschaft des Hier und Jetzt. Er war an Beute interessiert und nicht an der Erinnerung an ertrinkende Tyrrfholyn. Schon war der Fluss nicht mehr zu sehen, als sich eine Beute zeigte. Erdwörge. Sie standen am Fuß eines Hügels, die Wächter der Sippe, die vorsichtig nach möglichen Feinden spähten.
Enygme fand die Jagd auf etwas, mit dem man ein Gespräch führen könnte, widerlich. Grauadler kannten diese Bedenken nicht. Vermutlich kannten sie durchweg recht wenig Bedenken.
Tu’s nicht!, dachte sie dennoch, und Ärger zuckte wie ein Blitz durch die Gedankenverbindung. Das Bild verschwamm, als die Erde mit ungeheurer Geschwindigkeit näher kam. Sturzflug. So schnell. So tödlich.
Schwindel erfasste Enygme, und sie war froh, dass sie auf vier Hufen stand, denn auf zwei Beinen wäre sie wohl gestürzt. Noch bestand die Verbindung mit dem Raubvogel. Der Boden unter ihm raste näher, schien zu schaukeln, als der
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