Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
lauter Lärm keine Stimmen hörte. Weder die eigene innere Stimme noch die einer despotischen Pferdegöttin. Wo Angst entweder ein Symptom für eine Störung war oder einfach nur unvernünftig.
Doch ohne Una würde sie nie weglaufen.
Fast hätte sie wieder einen Wagen gerammt, als sie entschlossen das Gaspedal durchtrat und das Steuer herumriss. Sie konnte den Fahrer im anderen Auto fluchen sehen. Nicht wichtig. Sie bog nach rechts ab.
» Esteron « , murmelte sie. Sie wusste nicht mehr, ob sie ihn noch wahrnahm oder ob das Gefühl der Zugehörigkeit nur ein Trugbild ihrer eigenen Seele war. Der Wunsch nach Liebe in einer Situation des Verlustes. Sie war sich keiner Sache mehr sicher und hasste den Zustand des Zerrissenseins. Sie musste wissen, was sie tat.
Wie ein Kriegsschrei drängte ihre Beklemmung an die Oberfläche, brach sich Bahn durch einen Sumpf von Gefühlen der Unsicherheit: » Unaaaaaaaaa! «
Vielleicht war es nicht wichtig, dass sie verstand, was sie tat, solange sie wusste, warum sie es tat.
Was immer nötig war, um Una zu retten, sie würde es tun.
Kapitel 68
» Ergreift sie! « , hatte der Schamane gesagt. Natürlich waren diese Menschen sofort bereit, sich auf Una zu stürzen. Noch dazu, wo sie ihren Anführer attackiert und beleidigt hatte.
Doch es hatte gutgetan. Auch wenn sie jetzt dafür bezahlen würde. Was würden die Menschen mit ihr machen? Was machten Menschen überall mit Leuten, die neue Ideen hatten und drohten, ein bestehendes mieses System über den Haufen zu werfen? Sie brachten sie um.
Eine Woge der Angst schlug über Una zusammen. Das hier war kein Spiel mehr. Man starb hier wirklich, wenn man etwas falsch machte. Und sie machte gerade alles falsch. Einen Augenblick lang wollte sie sich niederwerfen und um irgendwas bitten, um Gnade vielleicht oder Vernunft oder einfach dass Hirn vom Himmel vertikal in vernagelte Köpfe fiele – ihren eigenen eingeschlossen. Doch sie konnte es nicht.
Ihre Hände waren immer noch in die Kleidung des Schamanen gekrallt, und sie starrte den Mann wütend an.
» Halt! « , rief sie dann, als sie sah, dass die Menschen sich ihr bereits näherten. » Ihr macht einen Fehler. Dies ist eure Chance! Heute ist euer Tag! Ihr könnt mir jetzt etwas antun und ewig so weitermachen wie bisher, schweigend und im Dunkeln. Und in Angst. Aber das müsst ihr nicht! Es kostet euch keinen Mut, mich anzugreifen, es kostet euch vielleicht nicht einmal Überwindung. Doch nie mehr wird euch das jemand sagen, was ich euch sagen kann. Nie mehr wird euch hier jemand herausholen wollen. Ihr bestimmt euer Schicksal selbst. Hier und heute! «
Jetzt hatte sie doch noch die große Rede gehalten. Ob es etwas nützte, wusste sie nicht. Auch die anwesenden Menschen schienen unschlüssig.
» Er « , sie bohrte mit dem Finger gegen die Schamanenbrust, » ist nur dafür da, dass alles so bleibt, wie es ist. Dunkel. Und still. Männer mit irgendwelchen Sonderrechten wollen immer, dass alles so bleibt, wie es ist. Aber habt ihr denn nie davon geträumt, dass euer Leben anders sein könnte? Dass einmal der Tag kommt, an dem ihr in die Welt hinausgeht und frei seid? «
Sie war laut geworden, doch vielleicht waren es ja die letzten Worte, die sie sagen würde, bevor diese Menschen irgendetwas Schreckliches mit ihr anstellten. Sie mochte nicht einmal darüber nachdenken, was das sein würde, aber Bilder von brennenden Scheiterhaufen und dunklen Folterkammern schossen ihr durch den Kopf. Die Vorfahren dieser Leute hatten das Menschenreich verlassen, als Scheiterhaufen und Folterkammern noch so richtig modern gewesen waren. Sie kannten vielleicht gar keine anderen Lösungswege.
Schnell redete sie weiter.
» Ich habe euch gesagt, dass ich jetzt nach oben gehe, weil ich keine Angst habe. Wer geht mit mir? «
Doch da wurde sie bereits von einer Vielzahl von Händen ergriffen und gewaltsam von dem Schamanen weggezerrt. Fäuste schlugen nach ihr. Hände rissen an ihren Haaren. Zischen drang durch den Raum. In ihrem Zorn konnten nicht einmal diese Menschen ganz still sein.
Una wehrte sich. Doch es waren zu viele. Sie schrie. Das Gezerre und die Schläge taten weh.
» Lasst mich sofort los! «
Sie hätte sich gewünscht, dass die Menschen vor ihrer lauten Stimme zurückzuckten, doch die hatten sich schnell daran gewöhnt, und jetzt würden sie Una zum Schweigen bringen. Schon hatte Una den Boden unter den Füßen verloren, hing hilflos im Griff der Meute, wehrte sich vergebens und
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