Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
reglos an – nur den Bruchteil einer Sekunde. Das Böse war darin zu lesen, doch für ebenjenen kurzen Moment auch völliges Unverständnis, als wüsste er ihre Frage nicht zu beantworten. Doch der Augenblick des Zweifels löste sich nur in neue Wut auf. Angriff erfolgte auf Angriff. Es schien, als würden die Widersacher mehr werden. Oder wurde Enygmes Gruppe kleiner?
Sie hatte nicht einmal Zeit, sich im Gewühle des Kampfes einen Überblick zu verschaffen. Das war schlecht, vor allem, wenn man die Anführerin war. Sie sollte das Kommando übernehmen, doch sie war vollkommen damit beschäftigt, sich zu wehren. Nur dass der Boden sich inzwischen rot färbte, blieb in ihrer Wahrnehmung hängen.
Astur war nun neben ihr, versuchte, die Übermacht, die auf Enygme eindrang, mit abzuwehren. Ihre Blicke trafen sich. Unglaublicher Zorn war in den dunklen Augen von Esterons Bruder zu erkennen. Die Wut des Kampfes war auf ihn übergegangen. Er tötete einen Uruschge, dann noch einen, schlug nach einem dritten, und Enygme konnte Knochen knacken hören. Dieser sanfte Mann!
Sie musste sich wieder ihren Gegnern zuwenden, denn immer noch drangen die Wesen auf sie ein. Inzwischen war klar: Sie war das primäre Ziel der Wasserpferde. Die Bestien hatten sie ausgesucht, man wollte die Fürstin umbringen.
Wenn sie fiel, würden sie sich als nächsten Astur vornehmen. Und was würde dann aus Talunys werden?
Mit neuem Elan biss Enygme um sich. Sobald ihre Zähne in das Fleisch der Feinde drangen, legte sich ein verdorbener Fischgeschmack auf ihre Zunge. Enygme hatte noch nie Fisch gegessen, doch den Geruch kannte sie.
Uruschge fingen und aßen Menschen. Und Tyrrfholyn, wenn sie welche erwischten. Die grauenhafte Vorstellung, sie alle würden das nächste Mahl der Uruschge sein, ließ in Enygme neue Kraft aufkeimen. Sie sammelte ihre Gedanken – und steckte prompt die nächste Verwundung ein, einen tiefen Biss in ihre Hinterflanke. Sie schrie vor Schmerz und Zorn. Wie schwer war es doch, sich auf seine mentale Kraft zu konzentrieren, während man mit ganzem Körpereinsatz kämpfen musste. Magie taugte nicht zum Kampf.
Wieder ließ sie ihre Gedanken zusammenfließen wie Rinnsale, die in einen See mündeten. Und wieder wurden die Angriffe auf sie heftiger. Doch diesmal warf sich Astur zwischen sie und einen neuen Feind. Er schrie, als ihn die Zähne des Uruschge am Hals trafen. Dieser Biss hätte eigentlich sie treffen sollen – das wusste Enygme. Nicht nachlassen, sagte sie sich. Das, was Astur für sie erlitt, durfte nicht umsonst sein.
Sie sammelte die Tropfen ihres magischen Könnens, ballte sie zusammen, knotete ihre Not in ihre Absicht, verschleierte diese Absicht gegenüber ihrem sanften Wesen, um nicht an ihrer eigenen Friedfertigkeit zu scheitern. Sie spürte ihre Gefährten, deren Willen, sie zu unterstützen, deren Gedanken und Zuwendung. Hoch reckte sie ihr Horn, versuchte, das Licht der aufgehenden Sonne auf dessen Spitze tanzen zu lassen, es zu fangen und durch ihre Stirn zu leiten. Ihr Kopf brannte vor Schmerzen. Ihre Mähne knisterte.
Dann sandte sie sie aus, die Kraft des aufgehenden Gestirns, die gesamte Helligkeit eines reinen Morgens, gepaart mit dem unbeugsamen Willen, das Üble nicht zuzulassen und das Gute zu schützen. Hell gegen Dunkel.
Schreie ertönten um sie herum. Es waren nicht die Schreie der Tyrrfholyn. Schattige, glitschige Kreaturen stolperten und stürzten. Sie wichen zurück, als ihre tangartigen Mähnen zu rauchen begannen. Dunkles Blut sprühte aus ihren Nüstern.
Nun fochten die Tyrrfholyn mit neuem Mut, senkten ihre Hörner in das Fleisch ihrer Gegner, bissen nach deren fischigen Leibern. Im Kampfgewühl formierte sich eine Ordnung. Die Einhörner standen in der Mitte zusammen, die Hörner nach außen gereckt, mit genug Platz, um manövrieren zu können.
Die Uruschge umkreisten sie in weitem Bogen. Das Licht hatte sie getroffen, und wenn es sie auch nicht tödlich verletzt hatte, so hatte es ihnen doch geschadet und ihnen gezeigt, dass Mordlust allein nicht ausreichte, um die Tyrrfholyn zu besiegen.
Enygmes Knie zitterten. Sie hielt sich eisern auf den Hufen, wusste jedoch, dass sie einen zweiten Angriff wie diesen kaum würde überstehen können. Sie war zum Gefäß und Willen des hellen Tages geworden. Doch Magie forderte ihren Preis.
Jetzt hörte sie sie, ihre Gefährten. Ganz leise begannen sie zu summen, einstimmig zuerst, dann polyfon nacheinander in sich umschlingenden Melodien,
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