Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
langen Dolch in den Händen darauf einstach und mit den Hufen danach trat.
Der Kentaur hatte rotes Blut. Das Blut des Schrates war grau. Hier rangen zwei auf Leben und Tod. Una zitterte. Sie begriff, dass trotz der Hitze des Kampfes beide Kontrahenten bemüht waren, möglichst wenig Lärm zu machen. Also waren vielleicht doch nicht alle Mardoryx, die hier lagen, tot.
Sie ließ ihren Blick über den riesigen Saal schweifen – und entdeckte Kanura, der leblos in der Mitte auf einer Art großem Steinaltar lag wie ein Menschenopfer.
Neues Entsetzen durchdrang sie kalt. Es war, als bräche der Boden unter ihren Füßen fort. Sie kam zu spät. Das Gefühl von Verlust übermannte sie fast. Sie musste zu ihm. Der Wunsch – nein, die absolute Notwendigkeit –, zu ihm zu gelangen, brannte in ihrer Seele und verwischte jeden Gedanken an Vorsicht.
Der graue Kentaur trug Kanuras Hornklinge. War es das, worum es bei diesem Kampf ging?
Ihr Blick schweifte wieder zu Kanura. Und wieder stach es sie mitten in die Seele, ihn so daliegen zu sehen. Sie musste zu ihm.
Das war ein blöder Wunsch – über Scharen von toten oder ruhenden Mardoryx hinwegzukrabbeln, um zu einem leblosen Einhorn zu gelangen, das keines mehr war und ihr nicht einmal würde helfen können, sollte es überhaupt noch am Leben sein.
Doch sie musste es wissen. Und welche Alternative hatte sie schon?
Sie legte sich bäuchlings auf den Boden und robbte um die Tür herum. Wenn die beiden Kämpfer jetzt in ihre Richtung sahen, würden sie sie entdecken. Una mochte noch nicht einmal daran denken, was dann mit ihr geschehen würde. Sie war jenseits solcher Überlegungen. Doch das hieß nicht, dass sie keine Angst hatte. Die Furcht zerfraß sie beinahe.
Sie erreichte die toten Einhörner, ohne dass irgendjemand sie bemerkt hatte. Sie presste sich so dicht auf den Boden, dass sie nicht einmal sehen konnte, ob die beiden Kämpfenden in ihre Richtung blickten.
Die Toten rochen muffig. Ihr Staub hing in der Luft, und Una hasste jeden Atemzug, den sie nehmen musste. Ganz nah an den Leichnamen kroch sie entlang in der Hoffnung, die knochigen Kadaver der großen Geschöpfe würden sie verbergen.
Es ekelte sie vor ihrer Nähe. Dumme Gedanken an Leichengifte und Grabmikroben schossen ihr durch den Kopf. Woran starben doch noch gleich Archäologen, die lange verschlossene Gräber öffneten? Giftige Leichenpilzsporen?
Sie versuchte sich damit zu beruhigen, dass sie vermutlich ohnehin nicht mehr lange genug leben würde, um von irgendwelchen giftigen Pilzen dahingerafft zu werden. Doch der Gedanke war wenig tröstlich.
Sie kam nur langsam voran. Sie wusste, dass sie den Kreis der Mardoryx umrundete. Sie hoffte auf eine Öffnung, einen Pfad in dem Wust an Leibern, doch bislang war da nichts. Sie wusste auch, dass sie den Kämpfenden näher kam. Das schien sich nicht vermeiden zu lassen. Vielleicht würden sie ja zu sehr miteinander beschäftigt sein, um sie zu bemerken. Vielleicht war sie auch gar nicht interessant, eine Eintagsfliege in der Gesamtheit des Geschehens.
Es war nicht mehr wichtig. Sie wollte zu Kanura. Sie wusste jetzt auch, warum. Weil er der Einzige in dieser gesamten Welt war, dem sie sich verbunden und zugehörig fühlte. Und weil, wenn sie schon sterben mussten, sie es vielleicht wenigstens gemeinsam machen sollten.
Eine unvorsichtige Berührung im Vorbeikriechen ließ einen der Leichname mit einer Staubwolke in sich zusammenfallen. Sie starrte auf das Horn, das direkt vor ihr knochenklirrend auf dem Boden aufschlug.
Das konnte man nicht gut überhört haben.
Kapitel 76
Tyrrfholyn. Sie war eine Tyrrfholyn. Der Gedanke drehte sich in Eryennis wie ein Kreisel, zu schnell, als dass sie ihn fassen konnte. Wie lang war sie jetzt schon hier? Warum konnte sie nicht einfach gehen? Sie war nicht gefesselt. Sie müsste einfach gehen können! Doch etwas hielt sie hier, ein Grauen und ein intensives Wollen, das sie komplett durchdrang.
Sie saß in Menschengestalt auf ihrer Lagerstatt und versuchte, die einfachsten Gedanken in eine vernünftige Abfolge zu bekommen. Doch die waren flüchtig wie Windböen.
Ihre langen, fuchsroten Haare fielen ihr wie Seide über die Schultern. Ihre kastanienbraunen Augen starrten auf den Höhlenboden vor ihr, der stellenweise so merkwürdig glatt war wie schwarzes Glas.
Sie hatte hier eine Aufgabe. Ein Ziel. Es war schwer zu glauben, dass sie das hier gewollt hatte, und doch erzählte ihr Gedächtnis ihr, dass das genau so
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