Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
die plötzlich Feinde hatte. Seine Freunde hatte er verloren. Und falls Eryennis vor ein paar Stunden noch gelebt hatte, so war sie inzwischen sicher auch schon tot, denn er hatte ihr nicht geholfen. Er war weggelaufen.
Er merkte, dass er auf ein Knie gesunken war vor Trauer. Er keuchte, rang nach Fassung. Er durfte sich jetzt nicht gehen lassen. Es ging nicht mehr nur um ihn. Es war vermutlich noch nie nur um ihn gegangen, doch bislang hatte er es verstanden, jeder Verantwortung spielerisch aus dem Wege zu gehen. Nun hatte sie ihn eingeholt.
» Una! « , flüsterte er. Wenigstens sie sollte er nicht im Stich lassen, auch wenn sie nichts begriff und ziemlich nervte. Es war nicht ihre Schuld – sondern seine.
Etwas mühsam rappelte er sich hoch, sog die Luft durch Mund und Nase ein, stellte die Nasenflügel weit und zog die Lippen von den Zähnen. Er nahm Witterung nach Fährten, Spuren, nach Sinneseindrücken auf, und plötzlich roch er den Duft des Mädchens, nahm seine Angstspur wahr. Zum Hügel hin zog der Geruch ihn, zu einem Hügel, den er noch nie gesehen hatte, in einem steinigen Gebiet, in dem er noch nie gewesen war. Alles war falsch.
Noch etwas roch er. Sie war nicht allein gewesen. Seine Sinneseindrücke waren zu vage, um das, was sich in der Nähe befunden hatte, genau zuzuordnen. Seine Schläfen brannten, und da war nur dieses drängende Gefühl, dass er eigentlich wissen müsste, was er zu erwarten hatte und was seine Unkenntnis für ihn, aber auch für Una, bedeutete.
» Dreck! « , fluchte er leise und folgte der Duftspur. Er musste nicht weit gehen, bis er eine Öffnung am Fuß des Hügels sah. Vermutlich eine Höhle. Er kniete sich hin und sah das nächste Problem. Sollte Una dort drinnen sein – und der Duft sagte ihm das –, wie sollte er hineingelangen? Der Spalt war groß genug für eine zierliche Frau wie Una. Er hingegen war alles andere als zierlich.
Er beugte sich weiter nach unten und rief leise nach Una.
Sie antwortete ihm nicht. Doch er spürte, dass sie durch diesen Eingang gekrochen war. Wie unvorsichtig von ihr. Was unter der Erde wohnte, war nicht immer freundlich. Die Welt hatte stets zwei Seiten, selbst die der Tyrrfholyn. Doch das konnte sie nicht wissen. Vielleicht war das in der Menschenwelt ja anders.
» Una! Geht es dir gut? « , rief er nun lauter.
Wieder kam keine Antwort. Er seufzte. Dann streckte er sich auf dem Boden aus und steckte den Kopf in den Höhleneingang.
Es war zu finster, um etwas zu erkennen. Doch der Geruch war nun stärker. Unas Panik mischte sich mit etwas anderem: Erdwörge. Kanura wusste, dass diese Wesen bisweilen zutraulich waren und manche seiner Freunde sie für possierlich hielten, doch meistens waren sie unberechenbar. Intelligente Rudelwesen, die den Tyrrfholyn aus dem Weg gingen.
Langsam schob er sich weiter, bekämpfte seinen Widerwillen, als großer Tyrrfholyn in diese enge Höhle zu müssen.
Er musste nicht nur die Satteltaschen vom Gürtel lösen, sondern auch noch die Luft anhalten und den Bauch einziehen, um überhaupt hineinzupassen. Mancher Teil seines kräftigen Körpers schien wirklich im Weg zu sein. In Einhorngestalt konnte er diesen Teil einziehen, aber die Menschengestalt war in vielerlei Hinsicht unpraktischer.
» Autsch! Dreck! « Fluchend schob und zwängte er sich tiefer.
Als sich seine Sehkraft an die neue Umgebung gewohnt hatte, konnte er etwas erkennen.
Was sagten Menschen wohl in so einer Situation?
» Verdammt! «
Kapitel 26
Der Mensch hieß Peter Buchmeister. Es war Sitte bei den Menschen, sich nach ihrem Handwerk und ihrer Kunstfertigkeit zu benennen, und Peter arbeitete als Archivar und Schreiber in der Bibliothek von Kerr-Dywwen – schon in der vierten Generation. Er war für einen Menschen recht alt, ein wenig gebeugt und hatte nur noch einen schmalen weißen Haarkranz, der sein Haupt zierte wie eine Halbkrone. Außerdem trug er, offenbar mit einigem Stolz, einen langen, weißen Bart.
» Werter Hra « , grüßte er seinen Fürsten und verneigte sich tief.
» Meister Peter « , grüßte Esteron respektvoll zurück, obgleich er in diesem Augenblick keine Lust hatte, gelehrte Gespräche über Schriften zu führen, etwas, das Peter Buchmeister allzu gerne tat – und mit wirklich viel Sachverstand.
» Ich wollte keinesfalls lauschen « , begann der Mensch. » Ich hatte nur in der Nähe Bücher geordnet und konnte nicht umhin, einige Worte Eures Gespräches aufzuschnappen. « Er hatte den Anstand,
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