Die Quellen Des Bösen
sehr groß. Dennoch gehörte sie niemals Boktor. Ihn habe ich benutzt, wie ich viele benutzte.« Belkala senkte den Kopf ein wenig. »Du bist nicht seine Tochter. Du bist die Nachfahrin des Großmeisters der Hohen Schwerter, das sollst du noch wissen.«
Ein Schütteln durchlief ihren Körper. Mit aller Anstrengung erhob sie sich und stützte sich auf ihrem Weg zur Tür ab, um nicht zu stürzen.
»Es wird Zeit, mich zum Sterben vorzubereiten. Der Keller wäre der passende Ort. Man wird meine Schreie nicht hören.« Sie schenkte ihrer Tochter, die still weinte, ein Lächeln und streichelte ihr das Haar. »Bleib oben.«
Die junge Frau wischte sich die Tränen ab, kam an ihre Seite und umfasste vorsichtig die Taille ihrer Mutter. »Ich werde dich in den letzten Stunden nicht allein lassen«, versprach sie.
»Nein«, versuchte Belkala sie von ihrem Vorhaben abzubringen und wollte sie von sich stoßen. »Mein Anblick wird gewiss furchtbar sein.« Ernst und doch voll Zuneigung schaute Estra in die Augen ihrer Mutter. »Einsamkeit ist das Schlimmste«, sagte sie und öffnete die Tür.
Zusammen bewegten sie sich durch die abgedunkelten Gänge und schritten die Stufen hinunter, die in den kleinen Keller des Hauses führten. Dort entzündeten sie eine Kerze.
In aller Eile richtete Estra ein kleines Lager, auf das sich Belkala sinken ließ. Augenblicklich entspannte sie sich; die Laken sogen das Wasser auf, das aus ihrem Körper sickerte, und zeigten rasch wachsende Flecken.
»Geh«, versuchte Belkala schwach. »Es wird schlimmer.«
Doch das Mädchen, so bleich es war, wich nicht.
Sie tupfte die Flüssigkeit aus dem Gesicht der Sterbenden und verfolgte die Veränderung der Haut Stufe für Stufe mit, bis sie sich straff gespannt über einem abgezehrten Gesicht spannte, ähnlich wie bei mumifizierten Leichnamen. Nur anhand der Bewegung der nun übergroß wirkenden Augen war deutlich, dass Belkala noch immer lebte. Ansonsten gab es keinerlei Anzeichen.
Ihre Beherrschung muss enorm sein , fand Estra bewegt. Kein Laut kommt über ihre ausgetrockneten Lippen.
Belkala starrte an die Decke des Gewölbes, plötzlich keuchte sie auf. Ein leidvolles Stöhnen entwich ihr, das sich zu einem lang gezogenen Schrei steigerte und nach dem Empfinden ihrer Tochter nicht mehr enden wollte. Das Mädchen ertrug es nicht länger, es hielt sich die Ohren zu.
Belkala presste die Fäuste zusammen, die zerfurchte Haut riss mit einem dezenten Knistern am ganzen Körper wie Pergament, wie eine vertrocknete Hülle auseinander, die Haare hingen strohig herab, fielen aus der Kopfhaut. Der Todesschrei endete abrupt. Der grausige Laut hallte noch ein wenig nach.
Innerhalb von wenigen Lidschlägen zerfielen die kümmerlichen Überreste der Frau zu Staub und kleinen Knochensplittern. Das Gewand sank in sich zusammen, weil es keinen Leib mehr gab, den es umhüllen konnte.
Estra schloss die Augen und barg das Gesicht in ihren Händen. In Gedanken war sie bei ihrer Mutter und betete zu Lakastra, dass er ihren Wunsch erfüllen möge.
Es dauerte lange, ehe sie sich aus dieser Position aufrichtete. Dann wagte sie, einen schüchternen Blick auf die Überreste zu werfen und entdeckte dabei den augengroßen Talisman, der in Bauchhöhe auf der Kleidung der Verstorbenen lag und aus einer porös wirkenden Legierung bestand.
Er sah noch immer so aus wie im Arbeitszimmer, doch nun bestand er wieder aus einem Stück.
Zögernd nahm sie den wie aus einem Guss gefertigten Schmuck auf und neigte sich zur Seite, um im Schein der Kerze etwas erkennen zu können.
Er zeigte merkwürdige Symbole und kensustrianische Schriftzeichen, die im Gegensatz zu vorher lesbar geworden waren. Auf der Vorderseite prangten Lobpreisungen Lakastras.
»Mein Leben währt zweifach«, las sie halblaut, »indem es vielen den Tod bringt.« Bedeutet das intakte Amulett, dass Lakastra seinen Fluch von ihr nahm? Dass sie im Reich der Toten angelangte und meinen Vater fand? Da dies für sie die versöhnlichste Vorstellung war, nahm Estra es einfach als Zeichen, dass alles in Ordnung sei.
Ehrfurchtsvoll legte sie sich den Talisman ihrer Mutter um den Hals, ein Andenken, das sie bewahren und in Ehren halten würde. Ein kurzes Schwindelgefühl befiel sie, als das Schmuckstück mit ihrer Haut in Berührung kam. Ich muss an die frische Luft.
Ein Geräusch in ihrem Rücken veranlasste sie, sich umzudrehen. Insgeheim rechnete sie mit einer Ratte oder einem anderen Bewohner des Gewölbes, der von dem
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