Die Quellen Des Bösen
die Brust. »Ich bin nicht darauf erpicht herauszufinden, was denn mein Vater alles gemacht hat. Es ist für mich unerheblich, ich lebe mein Leben auch ohne Wissen über ihn.«
Estra machte ein ungläubiges Gesicht. »Aber wenn er nun bewundernswerte Taten vollbracht hätte, auf die du stolz sein könntest?«
»Würde es etwas an meinem Leben ändern?«, hielt er dagegen.
»Vielleicht nicht. Aber eines deiner Kinder, dem du das vielleicht erzählst, könnte sich ihn als Vorbild nehmen und ebensolche Dinge tun«, erwiderte sie hartnäckig.
»Das könnte auch jeder andere tun, der von seinen Taten hört«, retournierte er nach kurzem Überlegen.
»Kennst du den Begriff Tradition denn nicht?«, wunderte sie sich und gab den Disput auf. »Ich jedenfalls möchte das Amt meiner Mutter in der Versammlung fortführen.«
Der Inquisitor nickte. »Dann sorgen wir dafür, dass du ihre würdige Nachfolgerin wirst. Obwohl ich, wenn ich die Sache richtig besehe, fast nichts mehr an dir auszubilden habe. Ich bin ja auch völlig überraschend und ohne Vorkenntnis in das Gremium gekommen.« Pashtak dachte nach, ob er seine nächste Frage stellen sollte. »Der Leichnam deiner Mutter sah bei der Zeremonie nicht so schrecklich entstellt aus, wie sie mich bei unserem Abschied glauben machen wollte.«
»Vertrau mir, ihr Anblick war furchtbar. Doch Lakastra verzieh ihr alle Taten der Vergangenheit und gab ihr nach ihrem Tod ihre alte Gestalt wieder.« Sie schaute ihren neuen Hausgenossen an. »Hast du gesehen, wie glücklich sie wirkte? Mein Vater und sie müssen sich bei den Toten vereint haben.« Estra wirkte gelöst.
»Nehmen wir es einfach einmal an«, nickte Pashtak, um ihre Hoffnung nicht zu zerstören. Das Mädchen hatte das Ableben schließlich erst einmal zu verkraften. Obwohl sie es nicht verdient hätte, bei der Zahl von Unschuldigen, die sie umbrachte.
»Was macht ein Inquisitor, wenn er alle Verbrechen aufgeklärt hat?«, wollte Estra wissen.
»Er bereitet junge Damen für die Versammlung vor und geht kleineren Rätseln in seiner freien Zeit nach«, gab Pashtak ungenau zur Antwort. »Ich stöbere in alten Büchern.«
»Ach, ja. Mutter übersetzte ein Büchlein für dich«, erinnerte sich Estra.
»Kensustrianisch«, entfuhr es Pashtak verblüfft, und er schlug sich an die Stirn seines knochigen, flachen Schädels. »Natürlich, das Büchlein war auf Kensustrianisch geschrieben. Es muss von einem Aufklärer verfasst worden sein, was heißt, dass es wiederum für die Heimat der Grünhaare bestimmt war. Dann ist es fast vierhundert Jahre alt.«
»Ich weiß nicht, wo die Heimat der Kensustrianer ist«, sagte die Frau vorbeugend. »Mutter hat es mir nicht erklärt. Und was hast du aus dem Bericht erfahren?«
Pashtak bleckte die Zähne. »Ich habe da einen Vorschlag. Wie wäre es, wenn ich dich zu meiner Inquisitorengehilfin mache? Allerdings müsstest du über alles Schweigen bewahren, was wir herausfinden.«
Estra lächelte schwach. »Vielen Dank, ich nehme das Angebot sehr gern an. Gehen wir die Sache in einer Woche an, wenn du mit deiner Familie eingezogen bist? Ich möchte vorerst ein wenig allein sein und meine Ruhe haben.«
Der Inquisitor hatte vollstes Verständnis für die Trauernde, die sich wacker hielt. Schließlich waren sie an ihrem Haus angekommen. »Ich sehe übermorgen bei dir vorbei, einverstanden? Wir könnten gemeinsam essen gehen.«
Ihre karamellfarbenen Augen ruhten auf seiner gedrungenen Gestalt. »Sehr gern.« Nach kurzem Zögern beugte sie sich vor und nahm ihn in die Arme. »Danke für alles. Wir werden gute Freunde werden.« Sie stieg die Treppen hinauf und ging durch die Tür ins Innere des Hauses.
»Das hoffe ich doch sehr«, murmelte Pashtak berührt und schlug den Weg zu Shui und den Kindern ein.
Dabei bemerkte er ein mit breiten Schwingen ausgestattetes Wesen, das lautlos über ihn hinwegglitt. Nur das leise Rauschen des Windes war zu hören, als der eindrucksvolle Schatten über die Straße huschte.
Ein Beobachter? Die tauchten schon eine kleine Ewigkeit nicht mehr hier auf, wunderte er sich insgeheim. Während er weiterging, verfolgte Pashtak den seltsamen Gast mit Blicken und beobachtete, wie er sich mit einer eleganten Bewegung auf einem der höchsten Gebäude niederließ.
Die Hautflügel falteten sich zusammen, und schon glich der Beobachter einer leblosen Steinfigur, die niemand bewusst zur Kenntnis nehmen würde.
Der Inquisitor überlegte, ob die Rückkehr der Beobachter ein
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