Die Quellen Des Bösen
»Wohin fahrt Ihr, Kapitän? Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr mich irgendwo in der Gegend an Land setzen würdet.«
»Das tue ich sehr gern. Aber nachdem Ihr eine Woche im Fieber lagt …«
»Eine Woche?«
»… wird es ein wenig dauern, bis wir festen Boden unter die Füße bekommen.« Der Freibeuter deutete auf den Horizont. »Unser nächster Halt ist Kalisstron. Um genauer zu sein, Bardhasdronda.«
»Was? Das geht nicht!«, begehrte der Ordenskrieger auf. »Ich muss nach Tarpol und mich mit einem Freund treffen. Die Verfolger werden ihn gewiss …«
Der Rogogarder schüttelte den Kopf. »Nein, junger Ritter. Die Leute aus Satucje werden zwar einen neuen Steg bauen müssen, aber die Häscher des silberhaarigen Dämons existieren nicht mehr. Euer Freund ist sicher vor ihnen. Ihr dagegen werdet in den Genuss kommen, einen neuen Kontinent zu betreten. Das ist der Preis dafür, dass Ihr Euer Leben noch besitzt. Mein Vorhaben ist zu wichtig. Wir reden später, wenn der kleine Sturm sich etwas beruhigt hat.«
Seufzend ergab sich Tokaro in sein Schicksal und hinkte den Aufgang hinunter.
»Das ist übrigens ein sehr schönes Pferd«, schrie ihm der Freibeuter nach. »Woher habt Ihr es? Bislang habe ich nur ein solch schönes Exemplar gesehen.«
»Ein Geschenk«, antwortete Tokaro lakonisch und machte sich auf, den Hengst zu besuchen.
Treskor schwebte in einer Haltevorrichtung aus Segeltuch mit den Hufen knapp über dem Boden des Laderaums und kaute etwas trockenes Brot. Die Besatzung hatte ihm den rechten Vorderlauf mit zwei Holzlatten geschient, und damit er die verletzte Stelle nicht belastete und sich dadurch Schmerzen zuzog, hatten sie ihn einfach etwas angehoben. Doch helfen würde es nicht.
Freudig wieherte das Pferd und legte den Kopf auf Tokaros Schulter. Mit feuchten Augen streichelte er dem Tier die Nüstern. »Du hast mir das Leben gerettet, treuer Freund.« Behutsam untersuchte er das geschwollene Bein. Treskor zuckte zusammen, als er die gebrochene Stelle berührte. Aufmunternd strich er ihm über die Ohren. »Das kriegen wir wieder hin.«
Der Ordensritter wusste nur noch nicht, wie er das Wunder bewerkstelligen sollte.
Kontinent Ulldart, Königreich Barkis
(ehemals Tûris), Ammtára
(ehemals die Verbotene Stadt), Herbst 459 n. S.
D ie Borsten des dünnen Pinsels fegten den Staub der Jahrhunderte aus den Reliefs und legten ihre mit Akribie gemeißelten Feinheiten frei. Reiterfiguren, die gegen Ungeheuer anritten, Krieger, die sich auf einen riesigen Mann stürzten, Heere, die aufeinander prallten. Und Tote.
Pashtak blies kräftig über die Figuren und entfernte den letzten feinen Sand. »Sie scheinen sehr alt zu sein«, meinte er. Eine Kralle deutete auf den übergroßen Krieger, auf den sich alle anderen Kämpfer mit ihren Angriffen konzentrierten. »Das muss Sinured sein.«
Estra beugte sich herunter und schaute ihm über die Schulter. »Und das ist das ›Geeinte Heer‹«, legte sie ihre Ansicht zum zigsten Mal dar. »Das wissen wir doch alles, Inquisitor.«
»Wir hätten doch etwas übersehen können«, verteidigte Pashtak seine Genauigkeit und stand auf.
Mit Genehmigung der Versammlung hatten sie die zehn Sarkophage, die er gefunden hatte, in der Eingangshalle des Tagungsgebäudes aufgebahrt, um sie fernab von neugierigen Blicken zu untersuchen. Und das, so hatte zumindest Belkalas Tochter den Eindruck, beinahe von morgens bis abends, ohne dem Rätsel der angeblich immens mächtigen Waffe näher gekommen zu sein.
Keiner der Steinsärge zeigte auf seiner Oberfläche einen Hinweis. Nur die Geschichte, wie Sinured vor 459 Jahren besiegt worden war, prangte darauf. Die Toten mussten verdiente Recken gewesen sein, deren Taten in der Schlacht von enormer Bedeutung gewesen waren. Daher war es ihnen vergönnt, am Ort des Triumphes zu verbleiben. Oder als Wächter einzuziehen, um die Rückkehr des Bösen an diese Stätte zu verhindern. Im Gegensatz zu den mumifizierten Leichen reiste Sinured jedoch sehr lebendig über den Kontinent. Er hatte seine Bewacher auf dem Grund der See überlebt.
»Es würde mich nicht wundern, wenn sie gleich ihre Augen öffnen und sich erheben würden«, befand Estra schaudernd und zog den Kopf ein wenig ein.
Der Inquisitor, wie das Mädchen in ein pflegeleichtes Gewand gehüllt, grinste und bleckte die Zähne. »Ihr Menschen und euer Aberglaube.« Er erhob sich ebenfalls und wischte sich die klauenförmigen Hände an der Schürze ab. Der Pinsel landete auf dem
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