Die Rache der Engel
Liebe«, lächelte meine Großmutter nach drei oder vier Versuchen und streichelte dabei mein karottenfarbiges Haar, » du verfügst über die Gabe der Vision. Darüber besteht kein Zweifel. Deine Augen können durchdringen, wo die meisten nichts sehen. Du bist eine von uns! Du gehörst zum Clan!«
Ich sagte nichts.
» Diese Gabe bedeutet auch eine Verantwortung, mein Mädchen«, bemerkte meine Tante erfreut. » Ab heute wird deine Aufgabe darin bestehen, sie in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen.«
» Aber es macht mir Angst!«
» Keine Sorge, das legt sich.«
Noela und Großmutter Carmen führten mich dann zu einem Hügel, auf dem eine Gruppe Frauen ein Feuer entfacht hatte. Die Hitze des Feuers brachte sofort Farbe auf meine Wangen und belebte mich. Meine Tante begrüßte jede Einzelne der Versammelten, nannte sie beim Namen und umarmte sie liebevoll. Allen erzählte sie von mir und berichtete von dem, was zuvor mit mir geschehen war. Ich sah sie beschämt an und wünschte mir, sie würde nicht schon wieder von den Farben und den Wörtern erzählen. Ich konnte die Bedeutung des Ereignisses nicht einschätzen, und es war mir peinlich, nur wegen einer Sache, die für mich lediglich ein Spiel war, bei all diesen Frauen Gesprächsthema zu sein.
Schnell begriff ich, wie sehr ich mich getäuscht hatte. Jedes Mal, wenn Tante Noela ihre Erzählung beendete, trat ihre jeweilige Zuhörerin einige Schritte zurück, musterte mich mit großen Augen, stürzte sich dann auf mich und bedeckte meine Stirn oder meine Hände mit Küssen. Dieses Ritual wiederholte sich etwa 20 Mal und erstreckte sich über fast zwei Stunden. Die Frauen, die an der Reihe waren, tranken aus einem Plastikbecher noch mehr von dem Hexentrank, schlichen um mich herum und erzählten sich Dinge, die ich nicht hören konnte.
Und als dies alles beendet war, geschah etwas Beeindruckendes.
Die Frauen, die mein » Geheimnis« bereits kannten, bildeten eine Reihe vor mir und baten mich sie anzusehen. Zunächst begriff ich sie nicht. Sie ansehen? Wozu? Meine Großmutter erklärte mir schließlich geduldig, ihre Gemeinschaft wolle überprüfen, ob in ihrem Kreis tatsächlich ein Mädchen mit der Gabe der Vision erschienen sei. Eine einzigartige, seltene Fähigkeit, die es nur wenigen Menschen einer Generation ermögliche, an unsichtbare Informationen zur Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft ihrer Mitmenschen zu gelangen und Klänge zu sehen oder Bilder zu hören. Letztendlich also Sphären der Wahrnehmung zu erreichen, die den meisten menschlichen Wesen fremd sind.
» Du brauchst nur die Augen zusammenzukneifen und das Erste benennen, was an deiner Netzhaut vorbeizieht«, sagte sie mir.
Das tat ich nun.
Bis zum Tagesanbruch » sah« ich mir all die Meigas im Schein des Feuers an. Ich sah alle wie in eine Nebelwolke oder in ein Lichtfeld unterschiedlicher Intensität gehüllt, die mir viel über ihre Gesundheit und über ihre Stimmung sagten. » Hilf uns, Julia!«, baten sie mich mit ihren glänzenden, aufgeregten Äuglein. Ohne weiteres Nachdenken sagte ich ihnen Dinge ins Gesicht, und alle akzeptierten sie. » Pass mit deinem Kreislauf auf!« » Lass dein Gehör untersuchen!« » Geh zum Arzt, er soll deine Niere untersuchen!« Dabei folgte ich nur meinem Instinkt. Dort, wo ihr Licht am blassesten war, vermutete ich ein Problem. Tante Noela und Großmutter lächelten zufrieden. » Du siehst die Aura!«, staunten sie. Und ich nickte, obwohl ich gar nicht wusste, was das bedeutete. Aber wie hätte ich auch mit zehn Jahren wissen sollen, dass man diese Aura in früheren Zeiten für ein Zeichen der Heiligkeit hielt. Oder dass Menschen mit außergewöhnlichen Gaben sie ausstrahlten.
» Unter uns gibt es Engel, bei denen ist sie goldfarben«, sagte mir eine Greisin, die noch viel älter als meine Großmutter war und deren Gesicht von langen, tiefen Falten durchzogen war. » Sie suchen nach Mädchen wie dir. Ihr seid wie diese ägyptischen Schakale, die den Toten beim Betreten des Jenseits als Führer dienten…«
» Und wieso wissen Sie das?«
Die alte Frau lächelte nachgiebig.
» Ich weiß es, mein Kind, weil ich schon alt genug bin, um solche Sachen zu kennen…«
Auch bei dieser Frau sah ich die Aura. Sie war sehr gedämpft. So sehr, dass ich befürchtete, dass ihr nicht mehr viel Zeit zu leben blieb. Sie sah wie ein feiner Ölfilm aus, der den ganzen Körper umhüllte und fast schwarz geworden war. Doch jedes Mal, wenn diese schwache Lichtschicht
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