Die Rache der Engel
das erneute Erleben ihrer Macht könnte mir nichts Böses bescheren.
Es wäre ja nur noch einmal.
›Das letzte Mal‹, sagte ich mir.
» Fühle, wie sie pochen.« Ich vernahm Sheilas Aufforderung. Ihre Stimme klang gedämpft. Als spräche sie aus den Tiefen eines Schwimmbeckens zu mir.
» Und suche nach dem Wesentlichen, das du mit ihnen teilst«, ergänzte Daniel. » Die reine Vibration ist die einzige Sprache, die die himmlischen Mächte verstehen.«
» Wir haben dich hierher gebracht, damit du uns mit ihnen in Verbindung setzt. Hilf uns, Julia!«
›Hilf uns!‹
Die inständige Bitte hallte in meinem Kopf wider.
›Hilf uns, Julia!‹
Es war ein verzweifeltes, eindringliches Flehen.
» Hilf uns!«, wiederholten sie.
Fast wie ein Gebet. Ein Mantra. Eines, welches eigentlich nicht neu war, das ich schon früher gehört hatte, viele Jahre zuvor.
Im Limbus meiner Kindheit.
Ich schloss die Augen.
Obwohl ich in Galicien geboren wurde, am Ende der Alten Welt, und obwohl ich mit den Geschichten meiner Familie aufwuchs, die von Gespenstern und Erscheinungen erzählten, von Dämonen, die Kinder stahlen, oder von Geistern, die sie beschützten, so bemühte ich mich immer sehr darum, nicht an solche Dinge zu glauben. Nicht, dass ich mich für eine Ungläubige hielt, die nur zuließ, was die Wissenschaft erklären konnte. Nein. Mit neun Jahren denkt man nicht in rationalen Mustern, und die Wissenschaft ist kaum mehr als ein Wort aus dem Schulbuch. Mein Grund, weshalb ich an diese Dinge nicht glaubte, war viel trivialer: Ich hatte Angst. Eine tiefe, atavistische Furcht, mit der ich seit meiner Geburt leben musste.
Einmal, an Allerseelen, in einer Nacht, die sehr jener ähnelte, in der ich in die Türkei kam, geschah etwas, das mit dem Etikett des Schreckens versehen für immer in meinem Unterbewusstsein gespeichert blieb.
Tante Noela und Großmutter Carmen kamen in mein Zimmer und holten mich ab, um mich an einen Ort zu bringen, den ich nie wieder vergessen konnte.
Es war kurz vor meinem zehnten Geburtstag. Tante Noelas Mann, der Bruder meiner Mutter, war kurz zuvor verstorben, und meine Mutter dachte, es sei gut für Noela, wenn sie über jene Tage voller Friedhofsbesuche und Totenmessen zu uns kam, um sich bei ihrer fröhlichen kleinen Nichte etwas abzulenken.
Wie zu jener Zeit üblich, ging ich kurz nach dem Abendessen zu Bett. Die Kälte und die Feuchtigkeit waren so stark, dass es am vernünftigsten war, früh zu Bett zu gehen und die Bettlaken aufzuwärmen, bevor die Nacht mit ihrer Feuchtigkeit kam. Mit etwas Glück war ich dann um zehn bereits eingeschlafen. Und jener Abend machte da keine Ausnahme. Dennoch geschah etwas, was ich nicht voraussehen konnte. Großmutter und Tante Noela warteten ab, bis meine Mutter eingeschlafen war, um mich mitzunehmen. Ohne vorherige Absprache holten sie mich in aller Eile aus dem Bett. Sie ließen mich nicht einmal fertig anziehen. Sie wirkten nervös, flüsterten unzusammenhängende Dinge, so als drängte es sie, aus dem Dorf zu kommen. Ungeschickt wickelten sie mich in einen alten blauen Anorak und baten mich, auf dem Vordersitz unseres Citroën 2 CV Platz zu nehmen.
» Wohin fahren wir, Tante?«, fragte ich und rieb mir die schläfrigen Augen.
» Deine Großmutter und ich möchten, dass du etwas siehst.«
» Etwas?«, gähnte ich. » Was denn?«
» Wir möchten wissen, ob du eine von uns bist, Kind. Ob du den besonderen Blick hast.«
Ich sah sie mit panischer Angst an.
» Mach dir keine Sorgen. Es wird dir gefallen.«
Mehr sagte Tante Noela aber nicht. Als wir nach drei Stunden voller Kurven und Schlaglöcher unser Ziel erreichten, entdeckte ich erleichtert, dass es sich um einen mir wohlbekannten Ort handelte. Obwohl ich nie im Winter dort gewesen war, und noch weniger des Nachts, wusste ich, dass sie mich an den Strand von Langosteira gebracht hatten, eine über zwei Kilometer lange Bucht mit weißem Sand unter den immergrünen paradiesischen Hügeln; unweit vom Kap Finisterre entfernt. Es war wahrlich das Ende der Welt. Wahrscheinlich deshalb war ich irritiert, als ich im Mondschein feststellte, dass der Ort voller Menschen war. Ich zählte nicht weniger als 20 Frauen und Mädchen, die zu dieser späten Stunde dort umherliefen. Es war sehr kalt. Und vom Meer wehte ein eisiger Wind. Es schien, als würde diese Menschenansammlung etwas feiern. Sie hatten Körbe mit Essen, Erfrischungsgetränken und Wein dabei, und auch große Korbflaschen, die sie nach und
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