Die Rache der Engel
nach öffneten, während sie im gespenstischen Licht der Nacht fröhlich plauderten.
» Weißt du, was das ist?«, fragte mich Großmutter, als sie sah, dass ich neugierig war.
Ich schüttelte den Kopf.
» Ein Hexentrank, mein Mädchen. Ein Likör der Meigas. Wenn du einen Schluck davon trinkst, wirst du überallhin fliegen können– wohin du möchtest. Möchtest du ihn probieren?«
Noch nie zuvor hatte ich wohl meine Großmutter so erstaunt angesehen wie an dem Abend. Die einzigen Hexen, die ich bis dahin kannte, waren die aus den Märchen. Im Vergleich zu den Hexen aus dem Süden waren die Meigas, die galicischen Hexen, eine sanftere Variante. Sie waren Kräuterhexen, die einfache Krankheiten oder Verstauchungen heilten und wie volkstümliche Hausärzte handelten. Trotz alledem lastete gelegentlich der Vorwurf des Irrglaubens, der Häresie, auf ihnen. Bis zu jener Nacht hatte ich geglaubt, meine Großmutter sei genau das Gegenstück zu dieser Welt. Eine Frau, die täglich zur Kirche ging. Die der Jungfrau von Fátima sehr zugetan war, und zudem eine Vertraute unseres Pfarrers. Sie war für den Blumenschmuck in der Kirche zuständig und führte die Liste mit den Kindern, die am Katechismusunterricht in der Kirche teilnahmen.
» Und du… du bist eine Hexe?«, fragte ich sie verblüfft.
Sie sah mich mit ihren wässrigen bläulichen Pupillen an, die mir schon so viel Zuneigung gewährt hatten. Dann schenkte sie mir ein zärtliches Lächeln und gab die seltsamste und liebevollste Antwort, die ihr jemals über die Lippen kam:
» Ab heute Nacht bist auch du es, Julia«, sagte sie halb im Ernst.
In dieser fernen Nacht trank und tanzte ich mit Tante Noela und mit meiner Großmutter bis zum Morgengrauen. Als ich mich vom ersten Schrecken erholt hatte, freundete ich mich mit den gleichaltrigen Mädchen an, deren Großmütter auch Meigas waren, und weit über meine körperlichen Möglichkeiten hinaus erlebte ich erstmals die Gabe, ohne Flügel fliegen zu können. Zum ersten Mal spürte ich, dass mein Körper kein Hindernis war, dass ich Mittel besaß, die das Körperliche überschritten und von denen ich bis dahin nicht einmal geträumt hatte. Das Getränk, das sie am Strand hatten abkühlen lassen, erwies sich als ein wirkungsvolles Gebräu. Sie erklärten mir nicht, woraus es gemacht war, aber man musste nicht besonders schlau sein, um auf dem Boden des Bechers Stückchen von Brennnesseln, Disteln und anderen ekelerregenden Kräutern zu erkennen, die im bitteren Alkohol schwammen. Jetzt weiß ich, dass es sich um bewusstseinsverändernde Substanzen handelte. Natürliche Drogen, die die Wahrnehmung beeinträchtigen und die Gehirnfunktionen verändern können.
Als ich berauscht war, kniete sich meine Tante vor mich hin und reichte mir ein Stück Papier.
» Und jetzt hilf uns, Julia!«
» Hilf uns!«, wiederholte meine Großmutter.
Auf dem zerknitterten und schmutzigen Blatt konnte ich mehrere Wörter erkennen.
» Lies sie laut vor und sag uns, was du fühlst!«, befahl sie mir.
Ich tat es, natürlich. Es waren lauter seltsame Vokabeln. Ohne jeden Sinn. Satzfetzen in einer mir unbekannten Sprache.
» Arakib… Aramiel… Kokabiel…«
Während ich vor Angst zitterte, füllte mein Mund sich, sobald ich die Wörter ausgesprochen hatte, allmählich mit exotischen Geschmäckern. Jedes Wort rief einen anderen hervor. Ich fühlte ganz deutlich, wie Minze meine Nase hochstieg. Und Rosmarin. Und kurz danach das Farnkraut. Und ab einem bestimmten Augenblick begann ich auch, die Wörter als Leuchtschrift zu sehen, wie kleine Insekten, die über mir schwebten. Sie waren vor dem dunklen Hintergrund der Nacht deutlich zu erkennen und tänzelten jedes Mal fröhlich, wenn jemand sie erneut aussprach.
Tante Noela und Großmutter Carmen sahen sich erfreut an, als sie mein überraschtes Gesicht wahrnahmen. Später, ohne sich um mein Entsetzen zu kümmern, baten sie mich, ihrem Singsang zu lauschen und dabei die Augen halb zu schließen, damit ich die Farbe ihrer Stimmen wahrnehmen konnte. Es war Wahnsinn! Noch so ein Wahnsinn! Aber trunken wie ich war, begann ich laut zu beschreiben, was ich fühlte. Wenn sie ein F sangen, erkannte ich eine Art gelben Schatten, der sich vor ihren Mündern ausbreitete, wie ein Atemhauch. Bei C wurde dieser Schatten rot, bei D violett. Die farbigen Schatten blieben so lange erhalten, wie die Intonation der Note anhielt, sie tänzelten unter dem Mond und lösten sich danach auf.
» Meine
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