Die Rache der Engel
einschalten.
Im Schein der mit Blei und Titan umhüllten Taschenlampe tastete Waasfi die Beine der jungen Frau ab, untersuchte in aller Ruhe ihren Rücken, Hals und die Handgelenke, ohne jedoch einen gefährlichen Gegenstand zu finden. Dr. Julia Álvarez war unbewaffnet. Der einzige Metallgegenstand, den sie bei sich trug, war eine dünne Halskette mit einem Kruzifix und einem Anhänger, der ihm aus der Nähe betrachtet ganz gewöhnlich vorkam. Dann leerte er ihre Handtasche, aber auch dabei fand er nichts, was ihr als Waffe dienen könnte.
» Sie ist sauber«, stellte Waasfi fest.
» Bist du sicher?«
» Ja, absolut.«
Der Scheich betrachtete neugierig Julias reglosen Körper und ihre Habseligkeiten, die sein Schüler untersucht hatte.
» Was ist mit dem Anhänger?«
» Der ist uninteressant, Meister.«
» Zeig ihn.«
Der junge Mann reichte ihm das Schmuckstück. Es war aus dünnem Silberblech, in das ein Wappen geprägt war. Es zeigte ein Schiff, über dem ein Vogel flog. Eingerahmt wurde es von einer rätselhaften Losung: Anfang und Ende.
Aus irgendeinem Grund strahlte bei diesem Anblick sein Meister über das gesamte Gesicht.
» Junge, du musst noch viel lernen«, flüsterte er, während er seine Zähne zu einem beunruhigenden Lächeln zusammenbiss. Waasfi senkte zum Zeichen seiner Beschämung den Kopf. » Weißt du, was das ist?«
Der junge Kämpfer blickte auf den kleinen Anhänger und schüttelte den Kopf.
» Das ist das Zeichen, das uns verrät, wo der Stein ist«, sagte der Scheich. » Schade, dass die Ungläubigen es nicht deuten können.«
33
Bei meiner Reise durch das Land der Toten gab es noch etwas, was mich überraschte. Es hatte damit zu tun, wie wir unsere Erinnerungen in einer Welt wahrnehmen, in der das Gehirn nicht mehr funktioniert und in der alle physischen Bezugspunkte verschwunden sind: Vor mir zogen jetzt keine weit zurückliegenden, mehr oder weniger verschwommenen Erinnerungen an wichtige Ereignisse meines Lebens vorüber. Nein. Ich sah das Leben an sich, so pulsierend und nahe wie das Leben, das ich gerade verloren hatte, doch mit einem kleinen, aber grundlegenden Unterschied: der Perspektive. Es war, als könnte ich meine Vergangenheit plötzlich von einer anderen Warte aus betrachten. Sie genauer, vielleicht klarer sehen. Als hätte meine Sehschärfe beim Durchschreiten des Schleiers des Todes zugenommen, sodass sich die Welt, in der mein Dasein bislang verlaufen war, jetzt, wo ich sie mit neuen Augen betrachtete, viel einfacher verstehen ließ.
Vielleicht war dies auch der Grund, warum meine Seele beschloss, die Ereignisse meiner Hochzeit Revue passieren zu lassen. Dadurch, dass ich in der stofflichen Welt nicht mehr existierte, erhielt ich nämlich nun die Gelegenheit, Schlüsselmomente aus meiner Vergangenheit so perfekt und verlässlich wahrzunehmen wie eine versteckte Fernsehkamera. ›Wie die Augen Gottes‹, dachte ich. Und auf diese Weise erfuhr ich, was ich jetzt erzählen werde. Soll heißen, das, was geschah, nachdem Daniel seine Rede über Gilgamesch und Utnapischtim beendet hatte, woraufhin einer der Gäste hastig von seinem Platz aufstand und in größter Eile die Kapelle von Biddlestone verließ:
Der Mann, der aus der Kapelle eilte, hieß Artemi Dujok. Er war ein alter Freund von Martin, der aus Armenien gekommen und, wie ich erfuhr, Hauptaktionär einer bedeutenden Exportfirma für Technologien war. Selbstverständlich hatte ich nicht mitbekommen, dass sein Foto in den Tagen vor unserer Trauung durch die Presse gegangen war. Der Mann vom Ende der Welt, titelten die Schlagzeilen. Anscheinend war Artemi Dujok mit einem kuriosen Projekt beschäftigt, dem » Svalbard Global Seed Vault«, dem weltweiten Saatgut-Tresor auf Spitzbergen, einem katastrophensicheren Bunker, der damals auf der nordatlantischen Insel gebaut wurde, um die Pflanzenbiodiversität der Erde zu bewahren. Martin erklärte mir, dass das Projekt darin bestand, im Permafrostgebiet von Spitzbergen eine Art Saatgut-Arche-Noah einzurichten, um dort über zwei Milliarden Pflanzensamen von allen fünf Kontinenten bei Temperaturen unter null Grad lagern und somit vor möglichen Katastrophen auf dem Planeten bewahren zu können. Artemi Dujoks Firma war mit der Entwicklung von IT -Sicherheitskonzepten für diesen gigantischen Speicher beauftragt. Die gleichen Zeitungsartikel brachten Dujok aber auch mit Projekten der Militärtechnologie und Hightech-Waffen in Verbindung und stellten damit sein Image
Weitere Kostenlose Bücher