Die Rache der Engel
zögerte. » Können Sie sich noch an den Ort der Schießerei erinnern?«
» Ja, neben dem Denkmal des campus stellae. Was ist denn damit?«
» Sehen Sie, an einem der Blöcke der Wand hat sich etwas gelöst und…«
» Haben Sie etwa den abgesperrten Bereich betreten?«
Auf die Frage des Polizisten wurde der Geistliche rot.
» Also, Padre Fornés will sagen, dass an der Wand etwas aufgetaucht ist«, erklärte der Erzbischof. » Ein Zeichen. Unser geschätzter Dekan hat es bemerkt, als er seine übliche Runde durch die einzelnen Schiffe der Kathedrale machte, und er meint, dieses Zeichen habe etwas mit dem Vorfall in der Nacht zu tun.«
» Ein Zeichen?« Dieser Hinweis schien Antonio Figueiras nicht sonderlich zu beeindrucken. » Denken Sie, der Mistkerl mit der Waffe hat seine Unterschrift an der Wand hinterlassen?«
» Nein… Darum geht es gar nicht, Señor Figueiras«, mischte sich der Dekan missmutig ein. » Ich glaube, der Mann, der in die Kathedrale eingedrungen ist, hat nach diesem Zeichen gesucht. So ein Zeichen lässt sich nicht improvisieren. Ich denke, er hat sich gezwungen gesehen, es sichtbar zu lassen, nachdem er es entdeckt hatte, weil ihm keine Zeit blieb, es wieder zu verdecken.«
» Im Ernst? Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen meine Polizeimarke und Sie erledigen meine Arbeit«, scherzte Figueiras.
Fornés musste sich sehr zügeln, um seine Antwort für sich zu behalten.
» Finden Sie nicht, dass dieser Eindringling auch während der Öffnungszeiten nach diesem Zeichen hätte suchen können, ohne ein solches Chaos zu verursachen?«
Diese Frage erschien dem Dekan besonders dreist.
» Señor Figueiras, Sie sind kein religiöser Mensch«, brummte er. » Sie würden es niemals verstehen.«
» Was würde ich niemals verstehen?«
Figueiras’ Augen funkelten. In einer Stadt wie Santiago de Compostela, die so von der Religion geprägt war, verursachten ihm Diskussionen mit der Kurie stets ein merkwürdiges Vergnügen.
» Dieses Zeichen stammt nicht von Menschen, Inspector Figueiras.«
» Aber natürlich. Ganz wie Sie sagen.«
» Es ist das Zeichen der Engel der Apokalypse. Und der Mann, der es entdeckte, hat sie in unserer Kirche angerufen.«
» Padre Fornés!«, forderte ihn der Erzbischof auf. » Jetzt hören Sie endlich damit auf!«
Der Polizist strahlte über das ganze Gesicht.
» Die Engel der Apokalypse haben Sie gerade gesagt?«
Benigno Fornés ballte die Fäuste.
» Denken Sie, was Sie wollen«, brummte er. » Aber sobald die Erde zu beben beginnt, werden Sie noch mehr dieser Symbole sehen. Wenn sich der Antichrist der Welt zeigt und der Schwanz des Drachen die Sterne vom Himmel auf die Erde fegt, werden Sie nicht beten. Denn dann werden Sie schon tot sein.«
» Padre Fornés!«, unterbrach ihn der Erzbischof entsetzt. » Unterlassen Sie das bitte!«
Der Dekan hatte mit einer derartigen Entschiedenheit gesprochen, dass Inspektor Figueiras einen Schritt zurücktrat. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Aber nicht wegen der Drohung des alten Geistlichen. Plötzlich spürte er, dass der Boden unter seinen Füßen zu vibrieren begann. Und das war keine Einbildung. Dann stieg ein leichtes Brummen, das sich zum ohrenbetäubenden Lärm steigerte, vom Pflaster in den Himmel auf und erfüllte die drei Männer mit Entsetzen.
Der misstrauische Polizist lächelte erst wieder, als er die Ursache des Lärms identifiziert hatte: Zum Glück war es nicht die Apokalypse.
›Der Hubschrauber‹, dachte er, während er die Umrisse des Helikopters zwischen den Türmen der Kathedrale ausfindig zu machen versuchte.
35
Als Artemi Dujok in unseren Traugottesdienst zurückkehrte, hatte der Prieser die Lesung des umstrittenen Henochbuches beendet und wollte gerade unseren Gästen erneut das Wort erteilen. Jetzt war Tante Sheila an der Reihe. Die Gralshüterin wirkte begierig, endlich ihre Rede halten zu können, die sie in Martins Auftrag vorbereitet hatte. Im Schatten ihres atemberaubend dekorativen Huts beendete sie ihren Bericht über das Gilgamesch-Epos mit dem Hinweis, dass diese Tontafeln zweifellos viele der wichtigsten Passagen im Henochbuch inspiriert hatten. Zusammen gesehen ergaben die beiden Texte so etwas wie den ältesten Wissenschaftsbericht der Welt.
» Man muss sich in das allegorisch geschulte Denken unserer Vorfahren hineinversetzen, um es zu verstehen«, forderte sie uns auf. » In einer Welt ohne Fachsprache waren Metaphern das einzige rhetorische Mittel, um die
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