Die Rache der Engel
Wirklichkeit zu beschreiben.«
Martin an meiner Seite war wie in Ekstase. Ihn begeisterte offensichtlich, dass aus seiner Hochzeit eine Art Festvortrag in alter Mythologie wurde, beziehungsweise in Angelologie, wie er sagte.
» Gut…«, fuhr Sheila fort, während ihr forschender Blick über die Gäste schweifte und schließlich bei dem Neuankömmling innehielt. » Ich gehe davon aus, dass ihr endlich wissen wollt, wie Utnapischtims Antwort lautete, als Gilgamesch ihn fragte, ob er auch unsterblich werden könnte, nicht wahr?«
Wir alle nickten.
» Ich fasse euch jetzt die sumerische Version des Mythos zusammen«, begann Sheila, wobei sie ihre Stimme wie eine professionelle Sprecherin modulierte. » Jahrhunderte bevor Gilgamesch auf die Welt kam, regierte Utnapischtim eine andere große Stadt, Schuruppak, deren Existenz die Archäologen durch Ausgrabungen nachgewiesen haben. In der Epoche ihrer größten Blüte beherrschten die ersten Zivilisationen fast ganz Asien und Afrika. In dieser Zeit vor der Sintflut beabsichtigte der Gott Enlil unsere Spezies zu vernichten. Er war von dem Lebenswandel der Menschen enttäuscht. So wie der Jahwe der Bibel. Und er hatte gute Gründe dafür: Wir waren rebellisch, wir beugten uns seinen Wünschen nicht und wir kamen ihm ebenso lärmend wie starrköpfig vor.
Der Plan, den er ausheckte, um uns zu zerstören, war so grausam, dass er alle anderen Götter schwören ließ, sie keinem Sterblichen zu verraten. Für Enlil lag das größte Problem in den Ehen zwischen Göttern und den ›Menschentöchtern‹. Er sagte, diese Vermischung habe unsere Spezies verdorben. Sie habe uns ehrgeizig und ungehorsam gemacht, und, was noch schlimmer war, immer stärker und klüger. Wir begannen zu sehr ihrem Stamm zu ähneln, so dass der Herr über alle Götter, der Herr des Himmels, des Windes und der Unwetter, beschloss, diese gefährliche Entwicklung zu beenden. Seine Lösung war radikal: Er würde eine weltweite Klimakatastrophe auslösen, die uns für immer vernichten würde.
Nur eine Gottheit widersetzte sich diesem Vorhaben: sein Bruder Enki. Denn dieser Gott hatte für uns mehr als Zuneigung übrig, teilweise verdankten wir ihm unsere Verbreitung auf der Erde. Enki schickte uns die Wächter und erlaubte ihnen, mit unseren Frauen Nachkommen zu haben. Er wollte unsere Spezies weiterentwickeln und erziehen. Aber als Enlil die ersten sichtbaren Ergebnisse erblickte, als die ersten komplexen menschlichen Gemeinschaften entstanden waren, wollte er uns auslöschen. Denn wir waren für ihn jetzt potentielle Feinde, Wesen, die mit einer Intelligenz ausgestattet waren, die früher oder später seiner ebenbürtig sein würde.
Enki war verzweifelt. Wie konnte er unsere Vernichtung verhindern, ohne seinen Bruder zu betrügen, das Oberhaupt der Götter?
Wie sollte er handeln, ohne seinen eigenen Stamm zu beleidigen?
Kurz vor dem D-Day, als sich in unserer Atmosphäre bereits die ersten Veränderungen zeigten, fand der wohlgesinnte Enki die Lösung. Er wusste, dass er Utnapischtim nicht offen warnen konnte, ohne seinen Schwur zu brechen. Aber was wäre, wenn der Mensch ›rein zufällig‹ von den Plänen seines Bruders erfuhr? Gesagt, getan. Unser Wohltäter suchte im Zentrum der Stadt eine hohe Mauer, hinter der er sich verstecken konnte, und ließ sich in der Erwartung, dass der König irgendwann dort vorbeikäme, hinter ihr nieder. Wenn es so weit wäre, würde er ein Gespräch vortäuschen, das Utnapischtim alarmieren sollte.
Und der Tag kam.
›Oh, Rohrhaus! Oh, Wand!‹, begann Enki hinter der Wand mit lauter Stimme zu deklamieren. ›Reiß ab das Haus, erbau ein Schiff, lass fahren Reichtum, dem Leben jag nach! Besitz gib auf, dafür erhalt das Leben. Heb hinein allerlei beseelten Samen ins Schiff.‹ Obwohl Utnapischtim sofort die Stimme seines Gottes erkannte, konnte er ihn nirgendwo entdecken. Verwirrt und beunruhigt durch die Rede, die nicht für seine Ohren bestimmt schien, kehrte er zum Palast zurück, überzeugt dass er diesen Vorfall als ein Zeichen verstehen sollte. In kürzester Zeit baute er ein riesiges Schiff, ohne Bug oder Heck, ohne Deck oder Masten, es war gepanzert und würde wie ein großer Kasten auf hoher See schwimmen. Die elfte Tafel des Gilgamesch-Epos ist sehr knapp, was die Beschreibung der folgenden Schrecken angeht, aber es berichtet über die Tage und Nächte des Unwetters, das das Reich Schuruppak überflutete und die Leute des Königs in größte Verzweiflung
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