Die Rache der Heilerin: Roman (German Edition)
Ihre Mutter Aline hatte immer sehr sorgfältig gestickt. Von ihr konnte dieses Tuch unmöglich stammen.
Luce zog seine Nase kraus. »Das sieht aber seltsam aus«, stellte er fest.
Plötzlich fiel Adela wieder ein, von wem dieses Bild stammte. »Kaiserin Matilda hat dieses Tuch bestickt.«
»Die Herrin meiner Großmutter Aline?« Luce kauerte sich neben sie auf den Boden und sah sie aus großen Augen an.
»Ja, und sie hasste Handarbeiten.« Die Kaiserin – wie Matilda von allen genannt worden war, da sie in erster Ehe mit dem deutschen Kaiser Heinrich V. verheiratet gewesen war – war eine stolze und temperamentvolle Frau gewesen, die ihre Launen häufig an den Menschen in ihrer Umgebung und auch an diesem Sticktuch ausgelassen hatte. So hatte es Aline ihrer Tochter erzählt.
»Großmutter Aline war Dienerin der Kaiserin Matilda, und Großvater Ethan gehörte zu den Leuten König Stephens, als sie sich kennen lernten. Nicht wahr?«, fragte Luce eifrig. Er kannte diese alten Geschichten längst. Aber er mochte sie immer wieder hören.
Adela nickte. »Ja, nur war Stephen damals noch nicht König. Nachdem Matildas Vater – König Henry – starb, kämpften Matilda und Stephen gegeneinander um die englische Krone.«
»Deshalb wurden Großmutter und Großvater Feinde, obwohl sie sich liebten, und konnten ganz lange nicht zusammenkommen.« Mit leuchtenden Augen fasste Luce die dramatischen Jahre zusammen, während derer Adelas Eltern den verfeindeten Lagern angehört hatten. Beide hatten sie sich ihrer Herrin und ihrem Herrn tief verpflichtet gefühlt und beide waren auch viel zu eigensinnig gewesen, um nachzugeben und in das Lager der anderen Partei zu wechseln.
»Aber dann hat Großvater der Großmutter und Kaiserin Matilda geholfen, während einer Belagerung aus der Burg von Oxford zu entkommen.« Luce hatte diese Szene – oder vielmehr eine kindliche Fantasieversion davon – schon oft mit Holzpferden und -rittern und irgendwelchen Gerätschaften, die als Burgmauer dienen mussten, nachgespielt. Das wirkliche Grauen solcher Kämpfe hatte Adela ihm bisher verschwiegen. Was Krieg bedeutete, würde er wahrscheinlich noch früh genug erfahren.
»Deswegen fiel Großvater bei König Stephen in Ungnade«, spann Luce den Faden weiter, als seine Mutter schwieg. »Aber als Großvater den bösen Baron Hugo de Thorigny in einem ehrlichen Kampf besiegte, erkannte Stephen, dass er doch ein guter Ritter war.«
»Ja, so ähnlich war es.« Adela fuhr ihrem Sohn wieder durch die Haare. Dies war auch ein Teil der Familiengeschichte, den Luce bislang aus guten Gründen nur teilweise kannte. Die de Thorignys hatten sowohl im Leben ihrer Mutter als auch ihres Vaters eine unheilvolle Rolle gespielt. Der Vater Hugo de Thorignys hatte den Hof von Alines Eltern – obwohl diese freie Bauern gewesen waren – widerrechtlich an sich gebracht und Aline zur Leibeigenen gemacht. Bei der Flucht aus der Sklaverei hatte Matilda sie vor seinen Häschern gerettet.
Ethan wiederum war zusammen mit Hugo de Thorigny e rst Knappe, dann Ritter an Stephens Hof gewesen. Hugo hatte keine Gelegenheit ausgelassen, ihn spüren zu lassen, dass er nur der »Bastard« eines Lords war. Als Hugo Adelas Mutter Aline verschleppt hatte, um sie zu vergewaltigen und wieder zur Leibeigenen zu machen, hatte Ethan ihn gestellt und getötet. Stephen, der bei all seinem Jähzorn und seinen anderen Fehlern ein großherziger Mann gewesen war, hatte es Ethan verziehen, dass er den Sohn eines seiner Getreuen im Kampf um die Frau, die er liebte, umgebracht hatte.
»Mutter, was hast du denn?« Luce berührte ihre Hand und sah sie fragend an.
»Nichts. Ich war nur gerade mit meinen Gedanken ganz woanders.« Adela lächelte ihn an. »Jedenfalls verdanken wir es Matilda, dass wir auf diesem Hof leben dürfen. Denn sie hat ihn deiner Großmutter geschenkt, nachdem diese aus ihrem Dienst ausschied und deinen Großvater heiratete. Und nachdem ihr Sohn Henry König von England wurde, setzte Matilda es auch durch, dass deine Großmutter das Gut ihrer Familie bei Salisbury von den de Thorignys zurückbekam.« Zusammen mit dem Brief, der diese Neuigkeit mitteilte, hatte Matilda Aline auch das Sticktuch geschickt, das nun vor ihr und Luce auf dem Boden lag – so hatte Aline es Adela erzählt.
Ihre Mutter hatte wieder in ihrer Heimat leben wollen. Deshalb war die Familie wenige Monate nach Adelas Geburt dorthin zurückgekehrt. Erst als Adelas ältester Bruder Nicolas beschlossen
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