Die Rache der Horden
herzerwärmenden Ruf des Horns, der über allem hing, wenn schließlich die Nacht hereinbrach. Wo waren diese Menschen jetzt alle? Wo sind wir?
Er blickte zum Himmel hinauf, wie er es so oft tat, wobei er stets dachte, dass sie irgendwo dort draußen hinter dem Großen Rad waren, das derzeit vom heranjagenden Sturm verborgen wurde. Ist mein altes Land in Sicherheit?, fragte er sich. Lincolns Amtszeit musste sich derzeit dem Ende zuneigen, und bei der Erinnerung an seinen alten Helden lächelte Andrew traurig. Die zweite Amtszeit musste bald vorüber sein und hoffentlich die Vereinigten Staaten als geeintes Ganzes erleben.
»Das alte Land«, so dachte er heute davon, auf die gleiche Art und Weise, wie Hans von Preußen sprach, Pat von Irland und Emil von Ungarn. Und doch war es anders. Er hatte ein Stück Amerika hierher verpflanzt – die »Vereinigten Staaten von Rus«, so nannten sie es jetzt. Sie formten es allmählich zu einem Erinnerungsbild der alten Heimat. In den Wäldern hinter Suzdal fühlte es sich tatsächlich in gewisser Hinsicht wie Zuhause an, wie Maine, besonders im Winter, wenn die riesigen Wälder still dalagen, gekleidet in einen Mantel aus kristallinem Weiß. Dort konnte Andrew alles abschütteln, zumindest in jenen seltenen Augenblicken, wenn er nach Norden in den Wald ritt, um allein zu sein. Dort ähnelte alles so sehr dem Land, in dem er aufgewachsen war – die von Findlingen durchsetzten Wälder, die hoch aufragenden Kiefern, die Schärfe des eisigen Windes.
Gott, wie sehr ich Maine vermisse!, dachte er traurig. Früher einmal war er nur ein Geschichtslehrer in Bowdoin gewesen, im stillen Frieden des Provinzlebens; er hatte Vorlesungen gehalten, in der Bibliothek gelesen, war an der Felsenküste spazieren gegangen und hatte dabei doch immer von etwas geträumt, was jenseits von all dem wartete. Darin lag, wie er wusste, der Reiz eines Lebens als Historiker: in den Träumen von etwas, das in der Vergangenheit lag, und in der Fantasievorstellung, man könnte selbst irgendwie eines Tages eine ähnliche Rolle spielen. Und als sich ihm eine kleine Nebenrolle im gewaltigen Drama des Krieges bot, griff er eilig zu, ohne sich dabei bewusst zu sein, was er alles aufgab. Indem er seinen Traum verwirklichte, verlor er einen anderen Traum.
Natürlich hätte ich mir niemals das vorstellen können, was mich dann erwartete, dachte er mit einem traurigen Lächeln: die letzte Fahrt mit der Ogunquit, das Erwachen in dieser Albtraumwelt. Komisch – heute ertappte er sich dabei, wie er davon träumte, all das könnte wieder vorübergehen und er womöglich einfach daraus erwachen. Aber dann, überlegte er, würde ich alles verlieren: Kathleen, das Baby, Emil, Pat, Hans, Kai und den seltsamen Impuls der Macht, den mir diese Welt verliehen hat, als formte ich allein das Schicksal eines ganzen Volkes. Aber zumindest wusste ich dort draußen, ehe ich fortging, was Frieden war.
Frieden. Er sann über dieses Wort nach, ließ es sich durch den Kopf gehen. Mehr als zwei Jahre Krieg gegen die Rebellen und fast zwei mal so lange hier. Das hinterließ Spuren: obwohl er gerade mal vierzig war, zogen sich graue Strähnen durchs Haar und das Gesicht war voller Falten. Er dachte daran zurück, wie er am Tag vor Antietam ausgesehen hatte, und ihm schien heute, dass er damals noch ein Kind gewesen sein musste, ehe er »den Elefanten erblickte«, wie die Veteranen die erste Schlacht eines Rekruten nannten. Konnte er jemals so jung gewesen sein?
Antietam, Fredericksburg, Gettysburg – lautlos zählte er die Namen ab: Virginia-Wildnis, Cold Harbor, Petersburg, der Bauernaufstand, der Erste Tugarenkrieg, der Roum-Feldzug, die Seeschlacht vor Suzdal, die unaufhörlichen Scharmützel des Winterfeldzuges in den Shenandoah-Bergen; und jetzt der nächste Krieg, wie immer man ihn letztlich auch nennen würde. Er spürte tief in den Eingeweiden, dass dieser Krieg anrückte.
Er drehte den Rücken in den Regen und blickte nach Süden in die gewaltige freie Steppe hinaus, aber in den sturmverwirbelten Nebelschwaden der beginnenden Morgendämmerung war kaum etwas zu erkennen. Trotzdem wusste er, wie es dort aussah, diese gewaltige freie Ebene, die er als vage beunruhigend empfand. War es die Landschaft, waren es die endlosen, niedrigen, leicht ansteigenden Hügel, die sich ins Grenzenlose zu erstrecken schienen und so fremdartig aussahen für jemanden, der aus Neuengland stammte? Oder lag es an der Gefahr, die, wie er wusste, dort
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