Die Rache der Horden
Sharg blickte sich in der Jurte um, zufrieden damit, wie lange sein Opfer auf den Beinen geblieben war. Das Gehirn wurde derweil im offenen Schädel weiter gekocht, während schon die Helfer des Schamanen den bebenden Leib packten und zurück zum Tisch zerrten. Sie warfen den Mann auf den Tisch, und während die Flammen noch weiter brannten, langte Jubadi mit dem Löffel zu, nahm sich ein Stück der gekochten Delikatesse und nickte beifällig, während Sharg das Ohr vor den Mund des Mannes hielt, nur für den Fall, dass noch letzte Worte daraus erklangen. Vuka zeigte die gewohnte Aufführung von Draufgängertum, indem er sich einen noch brennenden Brocken nahm und ihn herunterschluckte, wobei ihm die Häuptlinge zujubelten.
Neugierig blickte Tamuka dem sterbenden Mann in die blicklosen Augen, während dahinter alles in seelenlosen Staub zurücksank. Ohne jedes Gefühl verfolgte er, wie sich die Augen schließlich ganz verdrehten und der verkrampfte Unterkiefer erschlaffte. Sharg wich zurück und richtete sich auf, Zweifel in den Zügen.
»Hat er etwas gesagt?«, fragte Jubadi nervös.
»Er sagte, zwei würden sterben; und er sagte es in unserer Sprache«, flüsterte Sharg.
Jubadi blickte sich am Tisch und unter den Clanhäuptlingen um.
»Das ist übel; es betrifft deine eigene Tafel«, flüsterte jemand.
»Zwei werden sterben«, sagte Hulagar. »Rus und die Roum – wer könnte sonst gemeint sein?«
Tamuka sah, wie ein Ausdruck der Erleichterung über Shargs Gesicht lief, sofort gefolgt von Hass darüber, dass ihn einer aus dem Weißen Clan gerettet hatte. Und doch nickte er und drückte seine Zustimmung aus.
»Der Sieg wird vollständig sein, wie die Vorzeichen sagen«, verkündete er, als hätte er das selbst in Erfahrung gebracht.
Die Spannung löste sich, wurde gefolgt von Rufen der Kampfeslust. Sharg gab den übrigen Schamanen mit einem Wink zu verstehen, dass sie an den unteren Tischen mit ihren Ritualen beginnen konnten, nachdem jetzt die wichtigste Weissagung, die das Schicksal der gesamten Horde betraf, abgeschlossen war. Ausrufer verließen das Zelt und verkündeten der wartenden Horde mit lauten Stimmen die glücklichen Vorzeichen. Ein wahrer Donner von Stimmen hallte über die Steppe.
Schmerz- und Schreckensschreie erfüllten das Zelt, als sich die übrigen Schamanen an die Arbeit machten. Tamuka beugte sich vor und nahm sich einen großen Löffel voll von seiner Lieblingsspeise. Das gekochte Gehirn war weder zu fest noch zu wässrig und löste sich nach mehreren Sekunden des Kauens auf. Die fünf am Führungstisch leerten die Schädelhöhle rasch, wobei ihre Löffel aneinander stießen, während sie sich scherzend beeilten, auch noch die letzten Tropfen des grau-roten Breis zu verputzen. Vuka konnte sich nicht beherrschen und nahm sich den letzten Rest, indem er mit den Fingern an der Innenseite des Schädels entlangfuhr und sie dann ableckte.
Bratengeruch drang jetzt in Tamukas Nase, und er blickte auf und sah Dutzende von Dienern das Zelt betreten. Sie trugen Teller, schwer beladen mit gerösteten Gliedmaßen, Tabletts, die überliefen von aufgebrochenen Knochen, aus denen das Mark sickerte, von Leberpastete und Nieren unter goldener Kruste, von langen Bändern von Würsten, die zu dunkelbrauner Farbe gebraten waren. Zu all dem kamen noch Kessel voller Blutsuppe und zarter Konfekt, überzogen mit dunklem Zucker.
Diener öffneten jetzt den Tisch und zerrten die Leiche heraus, und sie wischten vor ihr den Boden und streuten dann frisches, duftendes Gras und Blumen darauf, ehe sie den Tisch wieder zuklappten. Sekunden später schien die Tischplatte förmlich zu ächzen unter der Last der ausgebreiteten Speisen. Tamuka nahm sich ein langes Stück vom Beinknochen und grunzte vor Genuss, als er es mit den Zähnen knackte und das Mark als Sauce benutzte, um die schweren, fettigen Würste hineinzutunken. An der Tafel bestand kaum Gesprächsbedarf – man verschwendete keine Atemluft auf Worte, wenn das Fasten eines langen Tages endlich gebrochen wurde.
Sänger standen in den dunklen Winkeln der gewaltigen Jurte und trugen die Adelslinien der Merki vor, angefangen mit Puka Taug Qarth, dem Ahnenvater, der sein Volk als Erstes durch das Lichtportal geführt hatte; darauf folgten die Namen zahlloser Generationen, und der Gesang wurde begleitet vom leisen, prickelnden Stöhnen der einsaitigen Zupfe, dem durchdringenden Schmettern der Nargas, der gewaltigen Kriegshörner, und unaufhörlichem
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