Die Rache der Horden
aber stetig lauter.
»Ein Gebet an die Sonne?«, spekulierte Andrew. Der Professor in ihm wurde auf einmal neugierig. Muslime beteten zu Sonnenaufgang – geschah hier das Gleiche?
Der Singsang setzte sich fort, mal lauter, mal leiser, und erreichte schließlich ein Crescendo, das genau in dem Augenblick erklang, an dem ein dünner Balken roten Lichts über die Steppe fuhr, geworfen von der mattroten Sonnenscheibe, die über den Horizont stieg.
Der Nebel, unter dem das gegenüberliegende Ufer verborgen lag, erinnerte jetzt an rötliche Zuckerwatte. Endlich stand die volle Sonnenscheibe über dem Horizont und verbreitete schon ihre Wärme.
»Wird heiß heute«, sagte Barney.
»Wenigstens löst sich dabei der Nebel schnell auf.«
Andrew setzte aufs Neue den Feldstecher an. Der Nebel verlagerte sich kurz. Hunderte undeutliche Gestalten bewegten sich auf dem anderen Ufer.
»Menschen?«, flüsterte Barney.
Andrew sah ihn an.
»Sie haben bessere Augen als ich«, sagte Andrew, der nie so recht wusste, ob er mit oder ohne Brille besser sah, wenn er ein Teleskop oder den Feldstecher benutzte.
»Ich denke, es sind Menschen«, sagte Barney kalt.
»Nicht schießen!«
Das Kommando, erteilt von einem Sergeant mit hoher Stimme, lenkte Andrews Aufmerksamkeit auf die entsprechende Stelle.
Ein halbes Dutzend Männer und Frauen kamen platschend aus dem Nebel zum Vorschein; sie wateten durch die schenkeltiefe Furt und winkten mit den Armen, aber ihre fernen Schreie waren kaum zu verstehen.
»Was zum Teufel?«, flüsterte Barney.
Die sechs setzten ihren Weg durch den Fluss fort, wiewohl sie sich in der entsetzlichen, albtraumhaften Zeitlupe all jener bewegten, die durch Wasser wateten. Andrew riss den Feldstecher wieder hoch.
Das Wasser rings um die sechs Menschen spritzte hoch, und ein paar Sekunden später hörte man das Knattern von Musketen. Vier Menschen kippten um und ruderten dabei mit Armen und Beinen. Andrew verfolgte das Geschehen durch den Feldstecher, konnte zwar die Gesichter kaum erkennen, spürte aber förmlich das Grauen darin.
Eine weitere Frau fiel um, einen langen Schaft im Rücken, und dann stürzte die letzte Person, kaum ein Viertel des Weges durch die Furt. Etliche Merki kamen aus dem Nebel zum Vorschein, rannten ins Wasser und packten die nächstliegenden Leichen.
Musketenfeuer zuckte die Frontlinie der Menschen entlang, und das Wasser rings um die drei Merki spritzte unter dem Einschlag der Kugeln. Einer der Merki wirbelte herum und langte sich an die Schulter, und trotziger Jubel stieg von den Rus auf. Zwei Merki setzten den Weg fort und hoben vier Körper auf, von denen sich einer noch matt bewegte.
»Sein Frühstück!«, rief Pat wütend.
Die beiden Merki zogen sich in den dünner werdenden Nebel zurück und zerrten ihre Opfer mit. Die Menschen feuerten weiter, und verärgert blickte Andrew die Linie entlang, während Offiziere den Männern schon zubrüllten, sie sollten gefälligst Munition sparen.
»Der Nebel lichtet sich langsam«, flüsterte ein Bursche, die Stimme gepresst von lauter Aufregung.
Als würde ein Vorhang von einer Bühne zurückgezogen, so zerwirbelte der Nebel jetzt zu dünnen Fetzen. Andrew spürte, wie sich sein Magen anspannte, und stand wachsam bereit, die Zähne zusammengebissen. Gemurmelte Flüche breiteten sich rings um ihn aus und wurden immer lauter.
Auf dem gegenüberliegenden Ufer waren über Nacht auf ganzer Breite der Furt eine Reihe schwerer Feldschanzen emporgewachsen, und im zunehmenden Tageslicht sah man Hunderte von Schaufeln und Hacken immer wieder für eine Sekunde über den Erdwällen aufblitzen und Erdbrocken verstreuen, ehe sie erneut verschwanden.
Und doch war es nicht dieser Anblick, der Andrew alarmierte. Sie konnten am anderen Ufer so viel graben, wie sie nur wollten – es hatte wirklich keinerlei Bedeutung, solange es nicht die Rus waren, die ihrerseits angreifen wollten.
»Diese verdammten Bastarde!«, knurrte Barney, und Andrew nickte schweigend.
Eine breite Mole, der Ansatz zu einem aus Erde aufgeschütteten Damm, ragte bereits in den Fluss hinein und war an der Spitze durch eine schwere Holzpalisade geschützt; noch während Andrew hinsah, wuchs sie um einen weiteren halben Meter. Auf der Mole wimmelte es von Arbeitern, Hunderten Arbeitern, die Weidenkörbe auf den Schultern trugen. Sobald sie jeweils die Spitze der Mole erreichten, kippten sie Gestein und Erde über die Palisade und gingen zurück.
Die Arbeiter waren Menschen –
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