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Die Rache der Jagerin

Die Rache der Jagerin

Titel: Die Rache der Jagerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelly Medling
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ähnlich und doch so verschieden. Wir hatten beide unser Leben gelassen, weil es jemand anders befohlen hatte. Und beide hatten wir das Leben wegen eines Mannes zurückerlangt: Wyatt Truman. Der Grund dafür spielte keine Rolle, nur das Endergebnis, nämlich ein neues Leben. Beide waren wir unter Fremden aufgewacht, ohne zu wissen, wie wir hierher gekommen waren oder was wir als Nächstes tun sollten. Coles neues Leben war unendlich viel schwerer gewesen als meines. Denn mir hatte Wyatt zur Seite gestanden, der mir geholfen hatte, mich zu finden und mein Gedächtnis wiederzuerlangen. Cole dagegen war alleine gewesen.
    Bei mir löste Einsamkeit meine Gabe aus, während sie bei Cole lediglich seinen Hass nährte.
    Zwei Straßen nördlich von dem Gebiet, in dem das Treffen vermutlich stattfinden würde, stellte ich den Wagen ab. Zu Fuß bewegte ich mich in südliche Richtung darauf zu, während die Triaden die Gegend von der anderen Seite aus absuchten. Die Fackeln hatte ich hinten in den Bund meiner Jeans gesteckt, und das Eisen hielt ich gegen meinen rechten Arm gepresst. Ich bewegte mich zügig vorwärts, indem ich mich in den Schatten hielt und von Gasse zu Gasse huschte. Da es bereits dämmerte, gab es genug dunkle Ecken, und die Leute, die mir gelegentlich auf dem Gehsteig begegneten oder an mir vorbeifuhren, beachteten mich nicht.
    Das steinerne Bürogebäude hatte schon bessere Zeiten erlebt. In zwei Blocks Entfernung zum Theater erhob es sich zwischen dem Laden eines Zigarettenhändlers und einem verrammelten Wohnhaus, das zu vermieten war. Heute, am Sonntag, war es geschlossen. Ich bog in die Gasse zwischen dem Bürogebäude und dem Zigarettenladen und kam an einem Container voller schimmelnder Pappkartons vorbei. Sobald man mich von der Straße aus nicht mehr sehen konnte, kauerte ich mich nieder und wartete.
    An meinem Herzschlag konnte ich das Verstreichen der Sekunden ablesen. Die Metallstange ruhte in meinem Schoß, und ich versuchte, nicht auf den widerlichen Geruch von Schimmel, Metall und faulendem Wasser zu achten. In der Ferne ertönte eine Hupe, eine zweite antwortete darauf. Als der Schrei eines Vogels mich aufschreckte, sah ich nach oben. Ich spürte einen Luftzug, und dann senkte sich ein Schatten auf die Gasse herab. Von der asphaltierten Fläche vor mir blinzelte mich ein Vogel an. Er hatte wunderschöne karamellfarbene und mit schwarzen Punkten gesprenkelte Flügel und ein gräuliches Gesicht. Sein kleiner, gebogener Schnabel öffnete sich, und von den Steinwänden hallte sein leicht gedämpfter Schrei wider.
    Ich stand auf, während sich der Turmfalke – Aurora hatte mir am Telefon ihre Vogelgestalt verraten – verwandelte. Während der Körper wuchs, verschwanden die Federn, zogen sich zu ihrem Kopf zurück und kamen dann als lange dicke Locken wieder zum Vorschein. An den übrigen Stellen wurde zarte, pfirsichfarbene Haut sichtbar. Aus den langen Schwingen wurden Arme, und die Klauenfüße verwandelten sich in schlanke Beine. Nur ihre Augen schienen sich nicht zu verändern. Als Frau hatte sie dieselben runden und lebhaft blauen Augen wie als Falke. Von der zurückliegenden Schwangerschaft war ihr Bauch noch immer etwas rundlich, und ihre Brüste waren voll. Dennoch schämte sie sich ihrer Nacktheit nicht im Geringsten.
    »Man hat sie zwei Straßen weiter gefahren«, berichtete Aurora. »In die Crawford Street, zu dem Ziegelgebäude mit der Feuerleiter und dem Windergarten auf dem Dach. Es befindet in Sichtweite des Theaters.«
    »Danke.«
    »Soll ich weiterhin Ausschau halten?«
    »Nein, den Rest kriege ich hin.« In diesen Kampf würde ich sie nicht hineinziehen, solange sie ein Baby zu Hause hatte – das inzwischen womöglich fünf Pfund schwerer als noch heute Nachmittag war.
    Sie kniff die Augen zusammen und presste die Lippen aufeinander, genau so, wie Phin es tat. »Es geht auch um meine Familie, Evy. Ich bin stärker, als du denkst.« Als wollte sie es mir beweisen, wuchsen ihr lange, angelegte Flügel aus dem Rücken, so wie bei Phin, wenn er sich halb wandelte.
    Sie spannte ihre Schwingen aus, so dass sie die gesamte Breite der Gasse einnahmen. Ihre Größe und das Farbenspiel aus Schwarz, Karamell und Weiß waren beeindruckend. Unter den Fettpolstern der Schwangerschaft zuckten ihre Muskeln.
    Das war ein Argument.
    »Kannst du das Theater beobachten?«
    Meine Bitte beschwichtigte sie. Nichtsdestotrotz blieb sie mit ausgebreiteten Schwingen wie ein Schutzengel stehen. Wie eines

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