Die Rache der Jagerin
stechenden Schmerzen nachließen und einem dumpfen Druck wichen, klärte sich meine Sicht, und ich erkannte das Gesicht, das Phin sehr treffend beschrieben hatte. Braune Haare, dunkle Augen und eingefallene Wangen. Wenn er ein paar Pfunde zugelegt und ein Lächeln aufgesetzt hätte, hätte er ganz gut ausgesehen. Leonard Call, wie er leibte und lebte. An einer Kette um seinen Hals hing ein orangefarbener Kristall, der so lang und breit wie ein Finger war. Einen solchen Kristall hatte ich vor einigen Tagen schon einmal in dem unterirdischen Gefängnis gesehen. Die darin enthaltene Magie hatte uns von der Kluft abgeschnitten.
Call griff in die Tasche seines knielangen schwarzen Leinenmantels und zog eine schlanke silberne Pistole heraus. »Hoppla«, sagte er und richtete den Lauf auf meinen Kopf.
Ich rollte zur Seite, dachte über meine Handlungsmöglichkeiten nach und bemühte mich, ihm nicht auf die Schuhe zu kotzen. Mir schwindelte, doch das würde schnell nachlassen. Allerdings tröstete mich das nicht sonderlich. Mehr als die Gehirnerschütterung beschäftigte mich der extreme Nachteil, den der Kristall für uns bedeutete. War es derselbe Kristall wie der im Gefängnis? Hatte der Highschool-Champion ihn Call gegeben? Call musste der Auftraggeber sein, mit dem der Halbvamp geprahlt hatte, bevor er sich in die Luft gejagt hatte. Aber hatten sie schon zusammengearbeitet, bevor ich vor fünf Tagen in dieses Gefängnis verschleppt worden war, oder erst danach?
Mir fehlte die Konzentration, um die Puzzleteile zusammenzufügen.
Er trat zurück, damit ich aufstehen konnte, hielt aber immer schön Abstand, falls ich ihn angreifen wollte. Dieser durchtriebene Schweinehund. Als ich es endlich schaffte, mich aufzurichten, musste ich mühsam einen Schmerzenslaut unterdrücken. Immerhin brachte ich es fertig, ihm einen vernichtenden Blick zuzuwerfen. Er war gut einen halben Kopf größer als ich, fast so groß wie Jesse gewesen war, und so drahtig, dass ich ihn mir nicht im Kampf Mann gegen Mann vorstellen konnte. Er hatte tatsächlich die Figur eines Schwimmers.
Da ging die Wintergartentür auf, und Eleri trat heraus. Als sie mich sah, erstarrte sie mit ausdrucksloser Miene. Kurz fragte ich mich, ob Isleen Gelegenheit gehabt hatte, ihr mitzuteilen, dass ich eine Verbündete – und nebenbei auch noch am Leben – war. Um nicht aus ihrer Rolle zu fallen, setzte sie einen ungläubigen Gesichtsausdruck auf und wandte sich Call zu.
»Anscheinend muss ich meinen eigenen Leibwächter spielen«, meinte Call und dirigierte mich mit der Waffe vor sich her. Eleri bleckte die Zähne, sagte aber nichts.
Ich ging auf die Tür zu. Weil ich die Verbindung zur Kluft nicht mehr spürte, schwankte ich wie eine Katze, die die Hälfte ihrer Schnurrhaare verloren hatte. Hinter Eleri betrat ich den stickigen Wintergarten. Es roch unangenehm nach feuchter Erde und morschem Holz. Ich kam mir vor, als würde ich zur Guillotine geführt werden, und jede Hoffnung auf Gnade starb, als Call hinter sich die Tür abschloss. Ich ging vorsichtig um einen Haufen aus kaputten Tischen und Holzteilen herum, der sich hinter der Tür erhob, und lief in die freie Mitte des Wintergartens.
Die drei Männer waren noch gut fünf Meter von mir entfernt. Anstatt auf Wyatt und Phin zu achten – deren Reaktionen vermutlich von überrascht bis enttäuscht reichen würden –, sah ich Snow in die Augen. Der Therianer glotzte mich an, und sein Hals und seine Wangen röteten sich langsam. Ich grinste.
Snow knurrte, holte aus und schlug Phin mit der Faust auf die Nase. Dabei war das Übelkeit erregende Geräusch von knackendem Knorpel zu hören. Phin wurde zur Seite geschleudert, so dass er gegen Wyatt prallte, der gerade noch verhindern konnte, dass sie beide zu Boden stürzten.
»Du dreckiger Schwindler«, sagte Snow.
Von der Hand, mit der Phin sich die Nase hielt, tropfte Blut, doch er schien über Snows Zornausbruch zu lächeln. »Wie ich dir gesagt habe, sie hat ein talentiertes Mundwerk.« Seine Stimme war belegt, als hätte er eine Erkältung. »Um so ein Talent wäre es zu schade gewesen.«
Mit gerunzelter Stirn und ohne ein Wort zu sagen, half Wyatt dem Gestaltwandler, sich aufzurichten. Snow spannte sofort alle Muskeln an und schien Phin gleich noch einmal schlagen zu wollen.
»Lass gut sein«, schaltete Call sich ein. Ich hörte Schritte, und da ging mir auf, dass er sich bis jetzt hinter dem Holzhaufen verborgen hatte. »Bald schon kommt die Zeit der
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