Die Rache Der Wache
war nicht zu deuten. »Meinst du ehrlich, was du sagst?«
»Es ist schön dort, Lythande. Und friedlich. Die Hälfte meiner Familie kennst du ja schon. Den Rest wirst du auch mögen. Du sagtest, du könntest lernen von uns.«
»... mich zu lieben?«
Wess sog die Luft tief ein. Sie beugte sich vor und küßte Lythande rasch, dann noch einmal, länger, so wie sie es sich gewünscht hatte, als sie sich zum erstenmal sahen.
Sie lehnte sich ein wenig zurück.
»Ja«, sagte sie. »In Freistatt muß ich lügen, aber jetzt bin ich nicht in Freistatt. Mit etwas Glück werde ich es nie wiedersehen — und nie wieder lügen müssen.«
»Wenn ich gehen müßte ... «
Wess grinste. »Ich versuchte, dich zum Bleiben zu überreden.« Sie berührte Lythandes Haar. »Aber ich würde gewiß nicht versuchen, dich zu halten. Bleib, solange du willst, und wann immer du zurückkehren willst, hast du einen Platz in Kaimas.«
»Ich zweifle nicht an deinem guten Vorsatz, kleine Schwester, sondern an meinem. Ich glaube, ich möchte deine Heimat nicht mehr verlassen, nachdem ich erst eine Weile dort gelebt habe.«
»Ich kann nicht in die Zukunft sehen.« Dann lachte sie über ihre Worte, schließlich sprach sie mit einem Magier. »Vielleicht kannst du es.«
Lythande erwiderte darauf nichts.
»Ich habe die Erfahrung gemacht«, fuhr Wess fort, »daß alles, was irgend jemand tut, Schmerzen verursachen kann. Sich selbst oder einem Freund. Dagegen kann man nichts tun.« Sie erhob sich. »Komm, ruh dich aus bei meinen Freunden und mir. Dann gehen wir heim.«
Lythande stand ebenfalls auf. »Du weißt vieles von mir nicht, kleine Schwester. Zuviel davon könnte dir weh tun.«
Wess schloß die Augen und wünschte - wie ein Kind, das eine Sternschnuppe gesehen hat. Sie öffnete die Augen wieder.
Lythande lächelte. »Ich komme mit dir. Wenn auch nur für eine Weile.«
Sie gingen Hand in Hand zu den anderen.
Cappen Varra
Ischade
C. J. Cherryh
1
Im schwachen Schein des Mondes, der Mühe hatte, seinen Weg zwischen den überhängenden Dächern in die Tiefe zu finden, und der die feuchten Wände zum Glitzern brachte, huschten Schatten über das Kopfsteinpflaster, hier im innersten Pfuhl des Labyrinths. Ein Schatten gehörte einer selbst im schwarzen Kapuzenumhang gut gekleideten Frau, die wahrhaftig nicht hierher paßte. Aber sie hatte ihren Grund hier zu sein und wich nur den schlüpfrigsten, übelriechendsten Gossen aus, während sie über die meisten sprang.
Ein zweiter Schatten, der eines Gauners, eines Aufschneiders und Gelegenheitsdiebes, fand sich in diesen Gassen blind zurecht. Sjekso hieß er und war hier geboren. Auch er nahm keinen geraden Weg, jedoch nicht, weil er sich scheute, in die stinkenden Pfützen zu treten. Aus der entgegengesetzten Richtung kam er durch dieses Netz finsterer Gassen. Er war ein gutaussehender Bursche, dieser Sjekso Kinzan, mit blonden Locken, gepflegtem und gestutztem Bart, momentan noch mit offenem Hemd und Wams, denn in der Gaststube des Wilden Einhorns war es heiß gewesen, aber auch, weil er eitel war. Er wußte von seiner Anziehungskraft auf Frauen. Im Augenblick roch er jedoch nach Wein und war mürrisch, nicht nur wegen seines leeren Beutels, sondern weil er beim Würfelspiel außer seinem Geld auch Minsys käufliche Gunst verloren hatte — und das war es, was ihm am meisten zu schaffen machte. Minsy war mit diesem Hurensohn Hanse gegangen, während er ...
Mit keineswegs klarem Kopf torkelte er zu seiner Unterkunft am Schlangenweg. Er rümpfte die Nase, stolperte fast über seine eigenen Füße und beklagte sein Pech. Er haßte Hanse, in dieser Nacht zumindest, und dachte sich verworren einen Plan aus, wie er in aller Öffentlichkeit Rache an ihm nehmen könnte ...
Durch den Nebel vom Hafen und den Schleier vor seinen Augen blinzelnd, sah er plötzlich eine Frau vor sich. Keine einfache Maid zweifellos, sondern eine feine Kurtisane, die sich vielleicht auf dem Rückweg von einem Stelldichein verlaufen hatte. Wenn das keine Gelegenheit war, die ein launischer Gott ihm zugespielt hatte!
»Nun«, murmelte er. Er spreizte die Arme und bewegte sich von einer Seite der schmalen Gasse zur anderen, um zu verhindern, daß die feine Dame an ihm vorbeikam. Wenigstens ein bißchen Spaß, dachte er. »Nun«, wiederholte er eulenhaft, aber die Frau versuchte hastig an ihm vorbeizuhuschen. Da griff er nach ihr, hielt sie fest und spürte sanfte Rundungen. Sein Opfer wand sich, schob ihn und bemühte sich,
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