Die Rache des Griechen
konnte es sich auch um einen Anruf von Jenny handeln. Auch die tüchtigste Tagesmutter konnte einmal krank werden. Und wer sollte sie sonst so früh am Morgen anrufen?
„Einen Moment, Schatz“, rief sie ihrem Sohn zu und nahm rasch den Hörer ab. „Ja bitte?“
„Spreche ich mit Eleanor James?“
„Ja, das ist richtig.“ Eine seltsame Erregung stieg in ihr auf, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wer der Mann am anderen Ende der Leitung war. Auf jeden Fall klang er nicht wie einer der vielen Reporter, die sie nach dem schrecklichen Vorfall in ihrer Schule regelrecht verfolgt hatten. Recht widerwillig hatte sie eine Pressekonferenz gegeben. Allmählich traten nun wieder andere Ereignisse in den Vordergrund, und Ellie war äußerst dankbar dafür.
„Weißt du, wer ich bin?“
Die Erinnerung traf sie wie ein Schlag. Einen Augenblick lang war sie unfähig, auch nur ein Wort zu sagen. Ihre Knie gaben nach, so dass sie sich auf den nächsten Küchenstuhl sinken ließ.
„Es tut mir leid“, brachte sie schließlich hervor. „Ich habe keine Zeit für ein weiteres Interview …“ Verzweifelt klammerte sie sich an diesen Strohhalm, es war ein Versuch, die Realität einfach zu ignorieren. „Ich bin sehr in Eile und überhaupt …“
„Du enttäuschst mich, Eleanor.“ Ein leises Lachen drang an ihr Ohr, aber es klang nicht freundlich, sondern Furcht erregend. „Erinnerst du dich nicht an Las Vegas? Das ist jetzt vier Jahre her!“
„Las Vegas“, wiederholte Ellie mechanisch. Es fühlte sich an, als habe sie Watte im Mund, die ihr das Sprechen erschwerte.
„Ich suche schon eine ganze Weile nach dir.“
Es nützte nichts, weiterhin so zu tun, als wüsste sie nicht, wer sich am anderen Ende der Leitung befand. Hoffentlich verhielt William sich ruhig!
„Ich würde sehr gern weiter mit dir plaudern“, begann sie, in der Hoffnung, dass ihre Stimme nicht ebenso zitterte wie ihre Hände, „aber wie ich eben schon sagte, bin ich sehr in Eile …“
„Warum treffen wir uns nicht später? Ich erwarte dich heute Abend um halb acht im Hanover Square. Es soll ein ausgezeichnetes Restaurant sein. An deiner Stelle würde ich unsere Verabredung einhalten, Eleanor, denn ich habe deine Adresse und werde nicht zögern, zu dir zu kommen, falls du nicht erscheinst. Wir haben eine Menge zu besprechen.“
Wortlos legte Ellie den Hörer auf, ohne ihren Sohn aus den Augen zu lassen. Die Angst, ihn an seinen Vater zu verlieren, erfüllte ihr Herz.
All die Erinnerungen, die Ellie jahrelang erfolgreich verdrängt hatte, brachen nun wieder hervor. Es war nicht leicht für sie gewesen, als sie damals bemerkte, dass sie schwanger war. Ohne Eltern und Geschwister war sie völlig auf sich allein gestellt. Ihr Kind würde seinen Vater niemals kennen lernen, denn den Nachnamen des Mannes, mit dem sie in Las Vegas ein paar unbeschwerte Stunden verlebt hatte, kannte sie nicht.
Nun saß sie an dem kleinen Schminktisch in ihrem Schlafzimmer und bereitete sich auf das Treffen mit ihm vor. Mit tiefen Atemzügen versuchte sie, die aufsteigende Übelkeit zu bekämpfen.
Zwei Tage hatten sie zusammen verbracht. An den ersten konnte sie sich gut erinnern, der zweite jedoch, es war Silvester und die Stadt brodelte vor Spannung, war wie hinter einem dichten Nebel verschwunden. Ellie schämte sich unsagbar für ihr damaliges Verhalten. Selbst die Tatsache, dass die Trauer um ihre Mutter sie emotional stark belastet hatte, konnte nicht als Entschuldigung dienen. Sie hatte viel zu viel getrunken und schließlich ihre Unschuld an einen Mann verloren, den sie erst kurz zuvor kennen gelernt hatte. Als sie am nächsten Morgen mit gewaltigen Kopfschmerzen neben ihm erwachte, war sie so in Panik, dass sie sich nicht anders zu helfen wusste, als den Ort des Geschehens so schnell wie möglich zu verlassen.
Inzwischen hatte sie ihr Leben im Griff. Dennoch musste sie sich in wenigen Stunden der Vergangenheit stellen und die Fragen ihres damaligen Liebhabers beantworten. Sicherlich wollte er wissen, warum sie einfach davongelaufen war. Zwar konnte sie sich nicht mehr an die Einzelheiten ihres kurzen gemeinsamen Abenteuers erinnern, dafür hatte sie damals einfach zu viel Alkohol im Blut gehabt, aber sie wusste noch ganz genau, welcher Typ Mann er war. Er gehörte zu der Sorte, vor der man die guten Mädchen immer warnte.
Aber ein gutes Mädchen benahm sich auch nicht so, wie sie es vor vier Jahren getan hatte. Damals war sie einfach nicht sie selbst
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