Die Rache des Marquis
dieses Grübchen in der einen Wange … Und Lyon hatte ihm eine viel zu enge Hose geliehen, die jeden einzelnen Muskel in seinen Schenkeln betonte – nebst anderen Dingen. Black Harry würde sie erwürgen, wenn er wüßte, daß sie sich die Zeit genommen hatte, den Körper eines Mannes zu betrachten. Doch Caines maskuline Merkmale ließen sich einfach nicht übersehen. Sie mochte zwar unschuldig sein, war aber nicht blind.
Fünfzehn Minuten später hatte sie ihre Toilette beendet. Die weiße Seidenbluse war ein bißchen zu eng für ihren Busen, aber das wurde von der Jacke verborgen. Die Stiefel drückten nur ein kleines bißchen an den Zehen. Den Versuch, ihr Haar zu flechten, gab sie bald auf. Sie hatte nie gelernt, sich zu frisieren, und brachte auch keine Geduld dafür auf. Früher hatte sie das nicht gestört, jetzt bereitet es ihr Sorge. Bis diese Maskerade überstanden war, galt sie als vornehme Dame, und so hätte sie auch aussehen müssen.
Die Speisezimmertür stand offen, Caine saß am Ende eines langen Mahagonitisches. Ein Diener goß aus einer schönen Silberkanne schwarzen Tee in eine Porzellantasse. In die Zeitung vertieft, beachtete Caine den Mann nicht.
Jade überlegte, ob sie knicksen sollte, entschied aber dann, daß es keine Rolle spielte, weil er auch ihr keine Aufmerksamkeit schenkte. Doch da irrte sie sich, denn sobald sie den Stuhl an seiner Seite erreichte, erhob er sich, um ihn ihr zurechtzurücken. Das hatte noch niemand für sie getan, nicht einmal Nathan, und sie wußte nicht recht, ob ihr dieses Aufheben gefiel.
Während sie frühstückte, setzte Caine seine Zeitungslektüre fort, die offenbar zu einem täglichen Ritual gehörte. Schließlich lehnte er sich zurück, faltete das Blatt zusammen, legte es beiseite und wandte sich zu Jade.
»Nun?« fragte sie.
»Was – nun?« Er lächelte über ihren Eifer.
»Wird in der Zeitung die Ermordung eines vornehmen Gentlemans erwähnt?«
»Nein.«
»Oh!« rief sie bestürzt. »Ich wette, sie haben ihn in die Themse geworfen. Weißt du – jetzt, wo ich darüber nachdenke … Im Fluß spürte ich, wie etwas meine Beine streifte. Das muß dieser arme Mann gewesen sein …«
»Jade, deine Phantasie geht wieder mal mit dir durch«, unterbrach er sie. »Die Zeitung berichtet weder vom Mord an einem vornehmen Gentleman noch von sonstigen Untaten.«
»Dann wurde er eben noch nicht gefunden.«
»Wenn er zur feinen Gesellschaft gehört, hätte man sein Verschwinden inzwischen bemerken müssen. Wann hast du diesen angeblichen Mord gesehen?«
»Vor zwei Tagen.«
»Und was genau hast du beobachtet?«
Jade schaute sich um. »Wo sind eigentlich Christina und Lyon?«
»Weichst du meiner Frage aus?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte es bloß nicht zweimal erzählen«, log sie, während sie fieberhaft eine glaubwürdige Geschichte erfand.
»Lyon ist ausgegangen, und Christina kümmert sich um Dakota. Antworte, bitte.« Als Jade die Augen aufriß, fragte er: »Was ist denn jetzt schon wieder los?«
»Du hast bitte gesagt«, wisperte sie ehrfürchtig. »Wenn du nicht aufpaßt, wirst du bald anfangen, dich bei mir zu entschuldigen, so wie es angemessen wäre.«
Caine zog es vor, nicht zu fragen, wofür er sich entschuldigen sollte. Denn er fürchtete, daß sie die Liste seiner Verfehlungen auswendig kannte.
»Sie haben ihn vom Dach geworfen«, erklärte sie.
»Du warst auf einem Dach?« Er blinzelte verwirrt.
»Natürlich nicht. Warum sollte ich?«
»Aber du hast gesehen, wie dieser Mann heruntergeworfen worden ist?«
»Ein elegant gekleideter Gentleman.«
»Wie viele Leute waren es?«
»Drei.«
»Bist du sicher?«
Sie nickte. »Ich hatte schreckliche Angst, konnte aber trotzdem immer noch zählen.«
»Und wo warst du, als es geschah?«
»Am Boden.«
»Das dachte ich mir bereits – da du nicht auf dem Dach warst.«
»Ich hätte ja auch in einem anderen Haus sein oder auf Nathans schönem Pferd reiten können oder …«
»Hör auf, Unsinn zu schwatzen, erzähl mir einfach nur, wo du warst und was du gesehen hast.«
»Was ich gehört habe, ist genauso wichtig, Caine.«
»Bemühst du dich absichtlich, mich zu ärgern?«
Jade verdrehte die Augen. »Ich wollte gerade in die Kirche gehen, als ich das Geschrei hörte. Sie zerrten diesen armen Mann über das Dach des Pfarrhauses, und ich beobachtete, wie er sich loszureißen versuchte. Dabei rief er um Hilfe. Das alles habe ich mir gewiß nicht eingebildet,
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