Die Rache des Samurai
die Wogen in ihren Ohren rauschen hören, konnte das Donnern vernehmen, wenn die Brandung gegen die felsigen Küsten ihres Bewußtseins anrannte. Aoi verschränkte die Hände, um sich der Flut entgegenzustemmen, die sie ins Chaos und den Wahnsinn fortreißen konnte. Ihre geübten Finger vollführten ganz von selbst eine Folge komplizierter Bewegungen: Sie verschränkten sich, legten sich umeinander, beugten sich, streckten sich.
»Viele Samurai, die einen gegnerischen Ninja diese Übung vollführen sahen, sind vor Furcht tot umgefallen«, hatte ihr Vater sie gelehrt. »Benütze die Übung so, wie du jede andere Waffe benützen würdest. Aber denke immer daran, daß die verschiedenen Handbewegungen keine bösen magischen Flüche sind, sondern ein Mantra, ein stummes Lied, das die Finger beten und das dazu dienen soll, deine Energie zu erwecken, sie zu bündeln und auf ein Ziel zu richten.«
Während Aois Finger sich im Wechsel spannten und lösten, beruhigte sich das aufgewühlte Meer in ihrem Inneren allmählich; die Schwingungen wurden langsam und rhythmisch. Aoi trieb in einer kalten, belebenden Atmosphäre der geschärften Sinneswahrnehmung. Von der Höhe des Hügels, auf dem sich der Tempel befand, konnte sie brennende Häuser unten in der Stadt riechen; sie konnte den Schnee auf fernen Bergen schmelzen hören. Sie konnte das Wasser des Flusses schmecken: Schmutz und Fisch. Ihre Kleidung drückte plötzlich mit dem zermalmenden Gewicht von Steinblöcken gegen ihre Haut. Doch alle diese Empfindungen waren äußerlich, und Aois letzte Handbewegung verbannten sie an den Rand ihres Bewußtseins. Das Bild ihres Vater verblaßte, und seine Stimme wurde leiser und verstummte mit den Worten: »Nun bist du bereit, meine Tochter.«
Aoi nahm den ersten Kimono an sich. Das Muster auf dem Stoff – die weißen Kraniche, die Schneeflocken und die grünen Fichtenzweige – brannte sich in Aois Hirn ein; der leuchtend purpurrote Hintergrund ließ ihre nun überempfindlichen Augen tränen. Als sie mit der Hand über den Stoff strich, wäre sie bei der sinnlichen Berührung der weichen, glatten Seide und der Millionen winziger Stiche der Stickmuster beinahe ohnmächtig geworden. Ihre Fingerspitzen ertasteten jede Stelle des Kimonos und suchten die fast unsichtbaren Bereiche, an denen der Stoff aufgrund der Reibung durch den Körper der Trägerin einen Hauch dünner war als an anderen Stellen. Mit unwirklicher Klarheit sah Aoi die winzigen Partikel, die sich am Ausschnitt, den Ärmeln und dem Saum festgesetzt hatten. Sie entdeckte ein einzelnes, langes schwarzes Haar, streichelte darüber, roch daran und ließ ihre Zunge darüber gleiten.
Schließlich hob sie den Kimono an ihr Gesicht. Sie schloß die Augen, um nicht durch andere äußere Wahrnehmungen abgelenkt zu werden. Dann konzentrierte sie sich auf verschiedene Stellen des Kleidungsstückes: Unterarme, Brust, Unterleib. Sie atmete die Körperausdünstungen ein, welche die Trägerin hinterlassen hatte: Absonderungen, Schweiß, Parfüm. Zum Schluß erschmeckte Aoi mit der Zunge jene Informationen, die ihr Augen und Nase nicht hatten liefern können. Als sie den Kimono schließlich auf den Boden legte, schlug ihr Herz rasend schnell, und ihr Körper zitterte von der Nachwirkung der schier überwältigenden Sinneswahrnehmungen.
Sie ruhte sich einen Moment aus; dann wiederholte sie den Vorgang bei dem zweiten, grauen Kimono, der mit Herbstblumen und Gräsern bedruckt war. Aoi sah die Erkenntnisse bestätigt, die sie bereits bei dem ersten Kimono gewonnen hatte – und es kamen noch einige neue Informationen hinzu. Als sie fertig war, legte sie sich, keuchend und erschöpft, mit geschlossenen Augen auf den Rücken.
Das Meer aus Energie brandete zurück; der Sog der Flut ließ nach. Allmählich verlangsamte sich Aois Herzschlag; ihre Atmung wurde ruhiger und regelmäßiger, und das Zittern ihres Körpers endete. Die Welt kehrte in ihren ursprünglichen Zustand zurück – stumpf und farblos im Vergleich zu Aois vorherigen Empfindungen.
Aoi öffnete die Augen und setzte sich auf, als sie das Geräusch von Schritten draußen vor der Tür vernahm.
»Tritt ein«, rief sie, noch bevor geklopft wurde. Selbst mit ihrer normalen Wahrnehmungsfähigkeit erkannte Aoi, daß ihr Besucher jene Person war, nach der sie geschickt hatte.
Ein junges Hausmädchen kam auf den Knien ins Zimmer und verbeugte sich. Sie war eine kleine Person mit einem bäuerlich derben Gesicht und ruhigem
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