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Die Rache des Samurai

Die Rache des Samurai

Titel: Die Rache des Samurai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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konnten. Aoi kniete auf dem Gehweg unter einem Kirschbaum nieder und machte sich voller Eifer daran, Schmutz und Steinchen, Zweige und abgefallene Blüten zusammenzufegen. Ein Schweißfilm bildete sich auf ihrem Gesicht. Das Sonnenlicht, das zwischen den sich wiegenden Ästen des Kirschbaums erstrahlte und wieder verschwand, blendete sie. Der Geruch feuchter Erde und harziger Kiefern füllte ihre Lungen. Obwohl sie versuchte, ihren Geist von allen Gedanken und Gefühlen zu reinigen, erlag sie dem Zauber des warmen Frühlingstages und der sehnsuchtsvollen Stimme ihres Herzens. Ihre Hände wurden langsamer. Sie versank in einen Tagtraum, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart vermischten.
    Sie war wieder in ihrem Dorf und stand auf ihrem Lieblingsplatz am Berghang. Der Wind spielte in ihrem Haar, und in ihrem Inneren war Friede. Wie froh und rein sie sich fühlte, nachdem sie ihre mystischen Kräfte für das Gute eingesetzt hatte, und nicht für das Böse! Und mit Sano zusammenzuarbeiten hatte ihr ein Gemeinschaftsgefühl verliehen, das sie nicht mehr erlebt hatte, seit sie von zu Hause fortgegangen war.
    Die Erinnerung an die vergangene Nacht ließ ihren Körper vor Verlangen beben. Jetzt sah sie Sano neben sich auf dem Berghang stehen; alle Abzeichen seiner Klasse und seines Ranges waren wundersamerweise verschwunden. Sein Haar war gewachsen und bedeckte seinen kahlgeschorenen Samurai-Scheitel. Er trug keine Schwerter, kein Wappen der Tokugawa. Als Aoi ihn so erblickte, stockte ihr der Atem. Bis jetzt hatte sie gar nicht bemerkt, wie sehr er ihrem Vater ähnelte. Beide besaßen das tiefe Gefühl für Ehre und Würde, das sich auf ihren ernsten Gesichtern widerspiegelte.
    Sano blickte Aoi an, lächelte aber nicht, und auch Aois Gesicht blieb unbewegt. Sie umarmten sich nicht, berührten einander nicht einmal. Von den Mauern des Palasts befreit, in denen sie einst gefangen waren, stiegen sie zusammen den Berg hinauf, einer gemeinsamen Zukunft entgegen, geheimnisvoll und unbestimmt, doch strahlend vor Versprechen. Aoi strömte das Herz vor Glück über.
    Ihr besonderer Sinn – in jahrelanger Übung dazu ausgebildet, auch dann wachsam zu bleiben, wenn sie in Gedanken war – spürte das Herannahen des Bösen zuerst. Binnen eines Augenblicks zerstob Aois Traum. Ihre Haut spannte sich, ihre Nasenflügel bebten und ihr Körper straffte sich, als die Gefahr sich anschlich wie ein Raubtier auf der Pirsch. Aois Blut brodelte vor Furcht und Erregung. Instinktiv spannten sich ihre Beinmuskeln, bereit, sie blitzschnell in Deckung zu tragen. Dann erkannte sie den Mann hinter der Aura, die ihn umhüllte. Die Furcht wich dem Entsetzen. Wie gelähmt verharrte Aoi auf den Knien, den Kopf gebeugt, den kleinen Besen in den Händen, während sie verzweifelt nach einer Möglichkeit zur Flucht suchte.
    Der Fremde gelangte in den Bereich ihres normalen Wahrnehmungsvermögens. Nun konnte Aoi seine verstohlenen Schritte und das Rascheln seidener Umhänge auf dem Gehweg hören. Der Duft seines Haaröls und seine männlichen Körpergerüche stiegen ihr in die Nase. Dicht vor Aoi blieb er stehen. Seine Nähe war wie ein kalter, düsterer Schatten der Nacht an einem strahlenden Morgen.
    »Mach weiter. Sieh nicht hoch«, sagte Kammerherr Yanagisawa.
    Aoi hielt den Blick auf den Boden gerichtet, und die Hand mit dem Besen bewegte sich, wenngleich weniger aus Gehorsam als aus Furcht, Yanagisawa in die Augen zu schauen. Warum war er am hellen Tag zu ihr gekommen, für jeden sichtbar? Hatte er irgendwie von ihrem Treuebruch erfahren? Blitzschnell schweiften Aois Gedanken zu ihrer Familie. Sie mußte sie vor der Gefahr warnen! Wie auch Sano, der gerade dabei war, Beweise für die Schuld des Kammerherrn zu sammeln.
    Über Aoi raschelte es im blühenden Kirschbaum; dann ertönte ein Knacken: Yanagisawa hatte einen Blütenzweig gepflückt. Aoi spürte, wie er sich den Zweig unter die Nase hielt und hörte, wie er an den Blüten roch – der vorgebliche Grund dafür, daß er hier stehengeblieben war, falls jemand sie beobachtete.
    »Was habt Ihr über die Nachforschungen von sōsakan Sano zu berichten?« fragte er.
    Aoi entspannte sich ein wenig. Vielleicht hatte Yanagisawa ja nur einen Augenblick der Muße gefunden und die Gelegenheit genützt, zum Tempel zu spazieren. Vielleicht war er kurz entschlossen stehengeblieben, als er sie erblickt hatte, um ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Eilig ordnete Aoi ihre Gedanken.
    »Gestern hat Sano mit Chūgo

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