Die Rache des Samurai
Aussage von Wilder Eber hätte widersprechen können. Plötzlich hielt er es in dem lärmenden, stickigen, saalähnlichen Raum nicht mehr aus. Er beobachtete, wie der größere der beiden Kämpfer mit der gekrümmten Klinge der Sichel zuschlug. Er schlitzte seinem Gegner die Schulter auf. Blut quoll aus der Schnittwunde. Keuchend taumelte der Verwundete gegen das Geländer. Vier Zuschauer sprangen in den Ring und zerrten den Mann heraus. Sobald das erste Blut floß, war der Kampf vorüber. Doch Sano hatte kein Verständnis für die überschwenglichen Jubelschreie der Menge.
Vater, betete er stumm, mach, daß die Wahrheit anders aussieht, als es jetzt den Anschein hat! Doch die Wirklichkeit blieb, wie sie war. Der Geist seines Vater hüllte sich in Schweigen, und zu seinem Entsetzen konnte Sano sich nicht einmal mehr das Gesicht des alten Mannes ins Gedächtnis rufen.
»Danke, Wilder Eber«, sagte er abrupt. »Laß uns gehen, Hirata.«
Wilder Eber beachtete Sanos Dank gar nicht. Er wandte sich Hirata zu. »Ich habe die Ware geliefert«, sagte er. »Jetzt will ich meine Bezahlung.«
Hirata zog seinen Geldbeutel hervor. Sano erkannte, daß sein getreuer Helfer die Informationen aus eigener Tasche bezahlte. Er hielt Hiratas Arm fest.
»Das übernehme ich. Wieviel?«
»Nein«, protestierte Hirata. »Ich habe das Geschäft abgeschlossen, also werde ich auch bezahlen.«
Sano bedachte ihn mit einem Blick, der keinen Widerspruch duldete. Aus seinem eigenen Geldbeutel zählte er die immense Summe ab, die Wilder Eber ihm nannte, und bezahlte so für das Wissen, das sein eigenes Leben in Gefahr brachte.
29
D
ie winzige, strohgedeckte Hütte der Tempelwächterin stand versteckt in den Wäldern, die den Momijiyama umgaben. Ein schmaler Pfad wand sich zwischen den Bäumen hindurch zum Eingang, der wiederum in einen Vorbau führte, in dem Geräte und Gegenstände untergebracht waren, die zur Pflege des Tempels dienten: Besen, Eimer, Putztücher, Seife, Kerzen, Lampen, Weihrauch. Alles war sorgfältig in Regalen gelagert. Hinter dem Vorbau befand sich ein Zimmer, dessen Fußboden mit sauberen Tatami-Matten ausgelegt war; die Einrichtung bestand aus einer Kochstelle, einem Badezuber und einem derben Schrank aus Holz, in dem persönliche Gegenstände verwahrt wurden; durch ein kleines Fenster konnte man hinaus auf den Wald blicken. Die Hütte bot das Notwendigste für das Leben und die Arbeit der Tempelwächterin.
In der Mitte des Zimmers kniete Aoi und faltete behutsam die beiden Kimonos auseinander, die Sano ihr am Abend zuvor gegeben hatte. Er hatte sie mit der Aufgabe betraut, die fehlende Zeugin zu identifizieren – jene geheimnisvolle Frau, die nach dem Mord an dem Mönch aus dem Zōjō-Tempel verschwunden war. Aois Finger zitterten vor angespannter Erwartung. Sie mußte Sano helfen, Beweise für die Schuld des Kammerherrn Yanagisawa zu finden. Falls sie versagte, war ihrer beider Chance auf Freiheit und Glück dahin.
Sie breitete die beiden Kimonos vor sich auf dem Boden aus, schaute sie sich aber noch nicht genauer an. Statt dessen saß sie längere Zeit bewegungslos da und starrte ins Leere, bis ihr Blick verschwommen wurde. Dann begann sie, langsame, tiefe Atemzüge zu machen. Immer wieder füllte sie die Lungen bis zum Bersten und blies dann die Luft aus, bis sie keinen Hauch mehr herausbrachte. Ein. Aus. Um ihren Geist zu beflügeln, dachte sie an ihren Vater, rief sich sein ernstes Gesicht in Erinnerung, hörte seine ruhige Stimme.
»Die besonderen Atemübungen der Ninja reinigen den Körper und das Blut, Aoi«, sagte er. »Sie beruhigen den Geist und fördern die Konzentration.«
Bald spürte Aoi, wie sich aus dem spirituellen Mittelpunkt in ihrem Unterleib die Kraft ausbreitete: gewaltige, unregelmäßige Schwingungen, die durch ihren ganzen Körper liefen und ihn erbeben ließen. Über das Donnern in ihrem Kopf hinweg vernahm Aoi die Stimme ihres Vaters, die über Zeit und Raum zu ihr drang:
»Furchtsame Uneingeweihte bezeichnen die Kraft der Ninja als ›schwarze Magie‹. Aber es ist keine Magie. Es ist die Kraft, die jeder Mensch in sich trägt. Doch nur wir Ninja wissen, wie man sich diese Kraft erschließen kann.«
Und diese wogende, wirbelnde Energie war auch nicht dunkel, sondern durchsetzt mit leuchtenden Funken, die hinter Aois Augen zu grellen Blitzen explodierten. Aoi stellte sich diese Kraft als ein tiefes, ruheloses Meer vor, das von leuchtenden, lebendigen Dingen erfüllt war. Sie konnte
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